Sonntag, 15. Dezember 2024

Wachen über den Wald

Als ich dieses Bild zum ersten Mal sah, stellte ich mir mich vor, wie ich frühmorgens aus dem Haus gehe, auf dem Weg zum Bahnhof, noch halb schlafend.


Es gibt eine kleine Straße und einen Platz zwischen einer Schule und einer Turnhalle, die ich an jedem Arbeitstag überquerte. Dort hat es ungefähr zehn Straßenlampen und diese Lampen waren manchmal kaputt, sie fingen nacheinander an zu blinken, meistens nur ein oder zwei, was ja noch ging, aber einmal gingen von einem Tag zum nächsten immer mehr kaputt, bis sie schließlich alle in einer Art stummem Code blinkten. Ehrlich, um 5 Uhr morgens habe ich schnell seltsame Ideen und es fühlte sich echt seltsam an. An diesem Tag dachte ich aber endlich daran, das online zu melden, und am nächsten Tag waren sie schon repariert.
Natürlich war es keine Hilfe gewesen, daß der kleine Park daneben dank diesem Blinken sogar noch merkwürdigere Schatten warf als sonst. Ich hatte Glück, daß die Frau, die dort eine Weile lang ihre dänische Dogge ohne Leine ausführte, zur der Zeit nicht da war. Sagt euch Hund von Baskerville etwas? Das erste Mal, daß ich diesen Hund aus dem Dunkel kommen sah, machte ich echt einen Satz.

Und nun stellt euch mal vor, was es meinem müden Gehirn angetan hätte, wenn ich unerwartet auf so etwas wie diese unheimliche "Kreatur" gestoßen wäre. Ich kann mich selber schreiend in die Hügel flüchtend sehen, nur kann ich nicht rennen und es gibt auch keine Hügel.

Trotzdem liebe ich dieses Bild und finde es schade, daß diese Straßenlampe in Warschau dem Web zufolge seither ihr Haar verloren hat, da die Firma, auf deren Grundstück sie steht, sie zu gefährlich für Fußgänger fand.

Das Bild ist schon eine Weile im Netz und taucht immer wieder mal auf. Als eine Freundin von mir es das letzte Mal teilt, dachte ich mir, daß ich wirklich gern versuchen würde, das irgendwie einzufangen. Früher hätte ich versucht, es aus Perlen zu weben, hätte aber die Ranken wahrscheinlich nicht so hinbekommen wie gewünscht. Perlenstickerei war eine weitere Möglichkeit, aber am Ende fühlte sich Handsticken wie die beste Wahl an.

Anfangs war der Plan, mehr oder weniger einen Teil des Bildes auf einem ziemlich kleinen Rahmen zu kopieren, um zu sehen, wie lange es wohl dauern würde und ob eine größere Version Sinn machte. Ich machte zunächst die Umrisse und die fließenden Ranken um Körper und Kopf herum und da dachte ich dann, ich müsse dem ganzen wenigstens so ein bißchen was von meinem eigenen Touch geben. Dadurch, daß ich ihr mehr Haare gab, wurde die Kreatur irgendwie anders für mich.
Ab diesem Punkt hätte es schon ziemlich klar sein können, daß das kein Probestück bleiben würde, denn als nächstes füllte ich die Umrisse stundenlang mit haufenweise kleinen Stichen in allen Richtungen, um ihnen Textur zu verleihen.

Das Gesicht hatte ich mir für den Schluß aufgehoben. Natürlich wollte ich nichts an dem Glühen ändern, schließlich erzeugt das diesen tollen Effekt. Wieder überlegte ich mir unterschiedliche Optionen, Perlen mit Silbereinzug, andere Perlen, sogar passend zugeschnittene Pailletten, nur weil ich mir nicht zutraute, diesen glühenden Effekt mit Stickerei zu erzielen, ich hatte ja das Schattieren noch nicht so sehr geübt.
Am Ende überzeugte mich mein inneres Spielkind, das gerne Dinge ausprobiert, es doch zu versuchen. Ich habe sechs Farben von meinem Sticktwist ausgesucht, einfach improvisiert und war damit viel zufriedener als erwartet.

Irgendwie veränderte sich das Wesen in meinem Kopf und der Pfosten auf der linken Seite fühlte sich falsch an, stattdessen mußte ich an Bäume denken. Meine Lieblingsbäume waren immer Birken, wir hatten welche in der Nachbarschaft, als ich ein Kind war, und sie waren so hübsch.
Ich konnte mich nicht zurückhalten und machte einen Baum nach dem anderen, und dann hatte ich nicht mehr wirklich eine Entschuldigung dafür, das bißchen, was vom Hintergrund noch übrig war, nicht auch noch aufzufüllen. Nun ja, und dann verlangte die Szene auch noch Schneefall.

Als ich meiner Freundin das erste schlechte Bild des fertigen Stücks zeigte, meinte sie, sie liebe "sie" mit einem Fragezeichen beim "sie". Ich antwortete, daß ich mir selber noch nicht mal sicher war, ob es "sie" oder "er" war, und daß ich das Gefühl hatte, daß hier eine Geschichte drin steckte, die zu schreiben ich leider nicht gut genug war.
Kleine Details anderer Geschichten, die ich kannte, gingen mir andauernd durch den Kopf, als ich hieran arbeitete, zum Beispiel meine liebste Weihnachtsgeschichte aus einer Anthologie, die ich als Kind geschenkt bekommen hatte. Sie spielt in den Wäldern und ich liebe sie so sehr, daß ich sie in einem Jahr tatsächlich mal abgetippt (Schreibmaschine, das zeigt euch, wie lange das her ist), kopiert und dann an meine Freunde verteilt habe.
Diese Schnipsel ergaben noch keine Geschichte für mein/e Wächter/in - denn das ist das einzige, worüber ich mir sicher bin, daß dies ein/e Wächter/in des Waldes aus uralten Zeiten und einer spirituellen Welt ist.
Ich möchte das nicht erzwingen, aber vielleicht wird sie oder er mir die Geschichte irgendwann erzählen, selbst wenn ich sie nicht in Worte fassen kann, sondern sie nur vor meinem inneren Auge sehe. Vielleicht werde ich ja etwas einem meiner verrückten Träume sehen.


Auf jeden Fall bin ich wirklich glücklich mit meiner neuen Freundin oder meinem neuen Freund.
Es wird kein größeres Stück davon geben, nicht nur weil ich ewig dafür brauchen würde, sondern auch weil die Geschichte nicht wiederholt werden kann.
Ich habe jetzt einen schlichten Rahmen dafür bestellt und kann nicht erwarten, es an die Wand zu hängen (soweit entfernt vom Dekan wie möglich!).
Ich konnte jedoch nicht widerstehen, es euch jetzt schon zu zeigen.

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