"Das Waisenkind", ein Stummfilm mit Mary Pickford von 1919, basiert auf dem Buch "Daddy Langbein" von Jean Webster, das 1912 veröffentlicht wurde (die Fortsetzung "Lieber Feind" kam 1915 heraus).
Ich las die Bücher das erste Mal, als ich ungefähr 10 war. Ich verbrachte ein paar Tage mit meiner Patentante auf dem Bauernhof ihrer Eltern und an einem dieser Tag hatte sie einen Friseurtermin und beschloß, mich mitzunehmen, weil alle anderen beschäftigt waren. Da sie meinte, ich würde es dort nicht sehr interessant finden, wählte sie "Daddy Langbein" von ihrem Regal, damit ich es im Salon lesen konnte. Ich erinnere mich, daß mir der Schutzumschlag so gut gefiel, und ich habe mir Jahre später tatsächlich extra deswegen diese Ausgabe gekauft.
Seither habe ich die Bücher mehr als einmal gelesen und das auch für diesen Post wieder gemacht, obwohl der Film nur das erste abdeckt.
Dann habe ich den Film (leider nur mit englischen Zwischentiteln auf YouTube) angeschaut, eine Herausforderung, weil es mein erster Versuch war, einen Stummfilm ohne Hintergrundmusik zu sehen (es gibt aber auch noch eine andere Version mit Musik und koloriert).
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Filmposter, Public Domain über Wikimedia |
Jerusha Abbott genannt Judy, als Baby in einer Mülltonne gefunden, ist das älteste Waisenkind im John Grier Home.
Sie versucht sich zu behaupten und die jüngeren Kinder zu verteidigen, aber das Leben unter der harten und grausamen Herrschaft der Leiterin Mrs. Lippett ist für alle Kinder im Waisenhaus schwer (manchen der Szenen nach zu urteilen kann es auch nicht so lustig gewesen sein, zu dieser Zeit ein schauspielerndes Kind zu sein).
Ihr Leben ändert sich, als einer der Vorstände beschließt, sie zum College zu schicken. Er möchte, daß ihr sein Name unbekannt bleibt und seine einzige Bedingung ist, daß sie ihm einmal im Monat einen Brief über ihr Leben und ihr Studium im College schickt. Das einzige, was sie vom ihm gesehen hat, ist sein "grotesk verlängerter" Schaden an der Wand, weshalb sie ihm den Namen "Daddy Langbein" gibt.
Im College teilt sie sich ein Zimmer mit Sally McBride und Julia Pendleton. Obwohl sie ihnen erzählt, daß sie einen Vormund hat, kann sie es nicht über sich bringen, über das Waisenhaus zu sprechen.
Anläßlich eines Shakespeare-Stücks lernt sie Sallys Bruder Jimmie und Julias Onkel Jarvis kennen, die sich beide sofort in sie vergucken (dank eines kleinen Amors, der es verbockt, diese zwei Szenen mit den kleinen Liebesgöttern sind äußerst seltsam).
Sallys Familie lädt Judy über den Sommer ein, aber in letzter Minute erhält sie einen Befehl von Daddy Langbein, ihren Sommer auf einem Bauernhof zu verbringen. Sehr zu ihrer Überraschung taucht dort Onkel Jarvis zu einem Besuch bei seinem alten Kindermädchen auf, und auch Jimmie kommt noch vorbei, um Judy zu sehen, wird aber von der Polizei aufgegriffen, weil er in den Wagen des Bürgermeisters gefahren ist.
Während eines Spaziergangs offenbart Judy, wie gerne sie eine Familie hätte und Jarvis bietet ihr sein Herz an, aber sie lehnt ab, weil sie entschlossen ist, einen Roman zu schreiben, damit sie Daddy Langbein alles zurückzahlen kann.
Nach ihrem Abschluß erhält Judy eine Einladung von den Pendletons, wo sie auf ein reiches Mädchen - Angelina - trifft, das sie kannte, als sie noch im Waisenhaus war. Sie sieht auch Jarvis nach einem Jahr wieder und er bittet sie, ihn zu heiraten, aber das Bild des Waisenhauses geht ihr nicht aus dem Kopf, besonders nachdem sie zufällig gehört hat, wie Angelina etwas Gemeines darüber sagt, daß sie eine Waise ist, auch wenn Sally sie verteidigt. Als sie erneut ablehnt, denkt Jarvis, daß sie es tut, weil sie in Jimmie verliebt ist, den sie darum bittet, sie zum Bauernhof zurückzufahren.
Dort schreibt sie Daddy Langbein von ihrer unglücklichen Liebe und wird endlich in sein Haus eingeladen.
Überraschung (als hätte ihr das nicht schon von Anfang an erraten), Daddy Langbein ist Jarvis! Ende.
Erstens war ich etwas überrascht, aber auch ein bißchen stolz auf mich, daß ich den völlig stummen Film fast am Stück geschafft habe. Die eine Pause, die ich machen mußte, war wegen einer Wespe, die plötzlich über meinem Kopf auftauchte, sich aber weigerte zu verschwinden. Womöglich ist sie noch irgendwo und lebt von geklautem Katzenfutter. Ich hörte ein Summen aus dem Nirgendwo und dachte ehrlich erst, mit meinem Laptop würde was nicht stimmen!
Zweitens, und das habt ihr wahrscheinlich schon erwartet, ziehe ich das Buch dem Film vor, das heißt aber gar nicht, daß mir der Film nicht gefallen hat.
Wenn ihr weiterlest, stellt euch wie üblich auf Spoiler ein.
Der Film beginnt damit, daß Baby Judy gefunden wird, dann springen wir 12 Jahre weiter.
Mary Pickford hat mehr als einmal ein Kind gespielt. Ich habe das nicht unbedingt erwartet, aber der Unterschied zwischen der zwölfjährigen Judy im ersten Teil und der ungefähr zwanzigjährigen im zweiten Teil funktioniert wirklich erstaunlich gut.
Der Film scheint in zwei Teile geteilt zu sein, nicht nur in Bezug auf Judys Alter.
Der erste, der im Waisenhaus spielt, ist eine Mischung von Einstellungen, die den Unterschied zwischen reich und arm demonstrieren, indem sie Judys Leben mit dem von Angelina vergleichen.
Es gibt ein paar Slapstickszenen, die Judy dabei zeigen, wie sie aus der Routine ausbricht, wenn sie zum Beispiel Geländer hinunterrutscht und ihre Unterwäsche Feuer fängt, es gibt aber auch traurige Szenen wie die mit einem sterbenden Waisenkind oder mit schweren Strafen.
Im Buch taucht Judys Leben vor dem College nur in der Einführung auf und dann in ihren Briefen an Daddy Langbein, die den Großteil des Buches ausmachen. Außerdem nimmt sie den Namen Judy erst im College an, ein neuer Name für ein neues Leben.
Der zweite Teil ist hauptsächlich eine Liebesgeschichte.
Vom College, das im Buch wirklich wichtig ist, bekommt man nicht viel zu sehen.
Judy erzählt Daddy Langbein alles, nicht nur einmal im Monat, was sie sich jetzt kauft, da sie ihr eigenes Taschengeld hat, Möbel für ihr Zimmer, Kleidung, Bücher, eine Uhr. Sie erzählt ihm vom Unterricht, von ihren Freunden, ihren Aktivitäten, von Leuten, die sie kennengelernt hat, von ihren Gedanken.
Das Buch zeigt, wie sie die Chance bekommen hat, sich von einem der Waisenkinder, die ihr Gingham wie eine Uniform tragen müssen, zu einer individuellen, gebildeten und unabhängigen jungen Frau und Schriftstellerin zu entwickeln, die sich zufällig auch noch verliebt.
Man muß sich vor Augen halten, daß das zu einer Zeit war, in der Frauen noch nicht landesweit wählen durften.
Es ist nichts falsch als einem Happy End. Aus dem zweiten Buch erfährt man, daß Judy Mutter wird, aber außerdem immer noch sehr sozial bewußt und aktiv ist.
Der Film jedoch zeigt das Leben im Waisenhaus und die Liebesgeschichte, ja gut, auch noch den Abschluß und einen Scheck für ein veröffentlichtes Buch. Das ist völlig in Ordnung, wenn man den Film dafür anschaut, was er ist, ich hatte nur das Gefühl, daß genau der Teil, der mir am Buch am besten gefällt, fehlt.
Ich verstehe aber, daß es wahrscheinlich einfacher und populärer war, sich auf die Liebesgeschichte zu konzentrieren.
Was ich interessant fand war, daß der Film manchmal in kleinen Hüpfern voranzugehen schien, mit ziemlich vielen Zwischentiteln. Ich frage mich, ob das die kurzen Einblicke nachahmen soll, die man aus den Briefen im Buch bekommt. Ich fand auch interessant, wie gut das funktionierte.
Viele der Zwischentitel hatten einen sehr schön gemalten Hintergrund. Hier ist einer meiner liebsten (Julias Onkel, Jarvis Pendleton, der seine Reichtümer jedem geben würde, der auch noch seine Verwandten dazunehmen würde.)
Kommen wir nun zum Elefant im Raum. Sowohl im Film als auch im Buch ist Jarvis älter als Judy, 14 Jahre, um genau zu sein. In diesem Fall erscheint mir das aber gar nicht gruselig, obwohl es in anderen Fällen schon so war, auch wenn ich verstehe, wenn andere anders darüber denken mögen.
Ich glaube, es hat damit zu tun, daß Jarvis niemals aufdringlich oder wirklich kontrollierend ist - außer dem einen Mal, als er ihr in seiner Rolle als Daddy Langbein befiehlt, auf den Bauernhof zu gehen anstatt Sallies (kein Tippfehler, so wird es im Buch geschrieben) Familie zu besuchen. Er versucht nicht, die Reichen- oder die Dankbarkeitskarte zu spielen, außerdem setzt sich Judy gegen ihn durch, wie das eine Mal, als sie gegen seinen Willen einen Sommerjob als Nachhilfelehrerin annimmt.
Tatsächlich denke ich, es ist mit dem Buch leichter, weil man einfach seine eigene Vorstellung von ihm hat, während das beim Film schwieriger ist. Für mich sieht Jarvis dort älter aus als die 39 Jahre des Schauspielers (Pickford war 26). Im Buch ist Judy 22 und Jarvis 36, als sie endlich zusammenkommen.
Zu dieser Zeit wäre diese Vorstellung gar nicht seltsam gewesen. Es ist überlegt worden, daß die Inspiration für die Geschichte vielleicht von Grover Clevelands Ehe mit Frances Folsom (engl.) kam, die sein inoffizielles Mündel war. Als sie heirateten, war er 49 und sie 21.
Pickford war in den Slapstickszenen sehr witzig und elegant und reif als Erwachsene, ohne übertriebenes Spiel.
Bis jetzt hatte ich nur mal eine Dokumentation über sie und ihren zweiten Mann, Douglas Fairbanks, gesehen - die Königin und der König von Hollywood, die zu ihrer Zeit im Filmgeschäft großen Einfluß hatten.
Dies war also der erste Film, den ich mit ihr gesehen habe und ich freue mich jetzt wirklich auf mehr.
P.S. Es gibt spätere Versionen, zum Beispiel ein Musical mit Fred Astaire und Leslie Caron (mit noch größerem Altersunterschied), aber auch ein Anime!
P.P.S. Während ich diesen Blogpost schreibe, kam unsere Freundin, die Wespe, zurück und ich habe es geschafft, sie in Richtung Fenster zu steuern und sie verschwand. Yay! Der Dekan hält immer noch nach ihr Ausschau, so wenig Vertrauen in meine Insektenjagd-Fähigkeiten.