Mein kleiner Bruder (jetzt nicht mehr so klein) ist fast neun Jahre jünger als ich. Nicht nur ich, auch andere aus der Familie, lasen ihm alle möglichen Bücher und Geschichten vor, als er noch klein war ... und dann ein bißchen größer ... er würde selber zugeben, daß er als Kind kein begeisterter Leser war, weil er es einfach mochte, wenn man ihm vorlas.
Und obwohl ich das damals nie zugegeben hätte, denke ich jetzt, daß ich ihm tatsächlich ganz gern vorlas, außer die paar Mal, wenn ich eigentlich andere Pläne hatte, wie zum Beispiel einen Film anzuschauen.
Habt ihr jemals einen Satz fünf Mal gelesen und immer noch nicht gewußt, was ihr gelesen habt, weil euer Gehirn auf Wanderung irgendwo anders hin zu gehen schien - was muß ich heute noch machen, was ziehe ich morgen an, warum fliegen Fliegen so chaotisch, woher kannte ich die Schauspielerin dem Film gestern or auch einfach warum sind die Leute um mich herum so laut ...
Etwas laut zu lesen kann uns mit unserer Aufmerksamkeitsspanne helfen und damit, das, was wir lesen, zu verarbeiten.
Es aktiviert unser Gehirn auf unterschiedliche Weise, was das Erfassung und Merken eines Textes unterstützen kann.
Ich habe immer wieder Selbstgespräche geführt, seit ich ein Kind war. Um den Heimweg vom Haus meiner Freundin weniger langweilig zu machen, las ich entweder während des Laufens ein Buch oder ich dachte mir kleine Geschichten aus, die ich mir selber flüsternd erzählte (ich hörte auf, wenn es jemand wagte, zu dicht bei mir zu laufen).
Es gibt Dinge daheim, die ich kommentieren muß, während ich sie tue. Manchmal lese ich eine Mail während des Entwerfens laut vor, um zu sehen, ob sie Sinn ergibt und ob ich alles abgedeckt habe.
Beim Lernen las ich etwas laut, wenn ich ein Problem damit hatte, es zu begreifen.
Irgendwann fing ich damit an, hin und wieder laut aus Büchern zu lesen, einen Abschnitt oder sogar ein Kapitel, nie aber ein ganzes Buch.
Außerdem las ich immer, wenn eines meiner Tiere krank war und ich es zum Trost im Arm hielt, etwas laut vor. Das fing mit Wurstel, meinem Kaninchen, an. Ich erinnere mich wie heute, das einzige Buch in Reichweite waren damals die Rübezahl-Geschichten.
Vor ungefähr anderthalb Jahren dann fing ich an, meinen Katzen nur so zum Spaß vorzulesen. Auch das hatte ich vorher schon manchmal gemacht, kleine Stückchen hier und da - denn ja, ich spreche mit meinen Katzen, und nein, ich habe nicht damit angefangen, seit ich allein lebe - aber jetzt tat ich es regelmäßig.
Unser erstes Buch war "At Christmas we feast : festive food through the
ages" von der britischen Lebensmittelhistorikerin (keine Ahnung, ob es da ein gutes deutsches Wort gibt) Annie Gray. Zuerst war das nur so "könntest du dich jetzt bitte beruhigen, komm her, ich les dir was vor", aber mir fiel auf, daß ich es tatsächlich genoß, das zu tun, und glaubt es oder nicht, ich merkte, daß die Katzen das Zuhören genossen. Okay, natürlich schliefen sie irgendwann ein und ich las einfach weiter, bis das Kapitel fertig war, aber ja, es hatte etwas Entspannendes.
Ihr findet das lächerlich? Ein Bekannter, dem ich davon erzählt, als wir über Bücher sprachen, lachte und fragte mich, wovon ich ablesen würde, daß die Katzen es mochten.
Natürlich würde ich jetzt gern sagen, daß sie meine exquisite Literaturauswahl und meine Talente als Vorleserin lieben, aber damit würde ich mir selber wirklich schmeicheln. Unser Lesestoff kann nur als eklektisch bezeichnet werden und meine Vorlesetalente würden mich keinesfalls für Hörbücher qualifizieren.
Abhängig davon, wie mein Tag war, von der Temperatur, meinem Grad von Müdigkeit oder Rastlosigkeit und ein paar anderen Faktoren kann ich entweder eine ziemlich gute Vorleserin sein oder eine schreckliche, der sich alle paar Wörter die Zunge verdreht.
Vielleicht fragt ihr euch, warum ich nicht einfach an einem Vorleseprogramm für Kinder in der Stadtbibliothek teilnehme oder eine Gruppe für "Shared Reading" finde, wenn ich gerne vorlese.
Es gibt mehrere Gründe.
Gundel und der Dekan sind extrem verständnisvoll an meinen Zungendrehtagen. Sie beschweren sich nicht, wenn ich ein Wort auslasse, ein falsches sage oder wenn ich eine Sekunde lang mit der Aussprache kämpfe. Ihr müßt wissen, daß ich ihnen gewöhnlich englische Bücher vorlese. Aus irgendeinem Grund ist es für mich immer entspannender gewesen, laut Englisch und stumm Deutsch zu lesen, sogar bevor ich den Katzen vorlas.
Es ist wie eine Gutenacht-Geschichte, das heißt, ich mache es, bevor wir uns zur Nachtruhe begeben. Wir lesen nicht untertags. Nun ja, ich schon, aber leise. Inzwischen fühlt es sich wie eine gute Art an runterzukommen, sich zu beruhigen und manchmal sogar besser zu schlafen (bis ein Gör mich um 3 Uhr morgens für "Frühstück" weckt) oder schneller. Gewöhnlich machen wir ein Kapitel, manchmal mehr, selten weniger, aber es gibt keine Regeln. Kürzlich lag Gundel schnurrend in meinem Arm, während ich sie streichelte und vorlas. Ich glaube einfach, daß sie meine Entspannung spüren und ihnen das gefällt.
Entschuldigt die schlechten Bilder, aber es ist äußerst schwierig, eines zu machen, wenn man die Kamera über den Kopf hält und blind auf etwas zielt, das hinter einem ist.
Wenn ich auf dem Bett liege, werfe ich gern meine Haare über das Kissen zurück, um sie aus dem Weg zu haben. Gundel machte es sich für unsere Lesestunde bequem - auf meinen Haaren. Bis der Dekan beschloß, daß er diesen Platz wollte, sie jagte und es dann etwas dauerte, bevor wir mit dem Lesen weitermachen konnten.
Sie urteilen nicht über meine Literaturauswahl. Wir haben von Essensgewohnheiten während Queen Victorias Zeiten gelesen, wir haben "Die drei ???"-Bücher gelesen, wir haben Kinderbücher gelesen, Vintagekrimis, im Moment wechseln wir zwischen einem Buch über "Craft psychology" und einer Biographie über eine Krimiautorin ab, vielleicht nehmen wir noch einen Band der drei ??? dazu.
Ich kann Zeit, Dauer und Buch auswählen. Sicher, es gibt nicht viel verbales Feedback oder eine Diskussion 😋, aber das ist in Ordnung für mich. Ist es auch langsamer? Natürlich ist es das, aber wir suchen die Bücher dementsprechend aus.
Tieren vorzulesen ist übrigens nicht ungewöhnlich. Tierheime haben die Vorzüge davon entdeckt, Tieren vorzulesen, um ihnen dabei zu helfen, mit dem Streß in der Tierheimumgebung fertigzuwerden.
Es gibt eine Menge Programme für Kinder, die hauptsächlich Hunden, aber auch Katzen vorlesen. Diese Programme helfen außerdem Kindern dabei, ihre Lesefähigkeit und Konzentration zu verbessern - nochmal, Haustiere sind sehr nachsichtig, wenn es um Fehler geht.
Warum sollte das aber nur für Kinder nützlich sein? Ist es nicht eher so, daß es Erwachsenen peinlich ist, so etwas zu tun? Und sogar darüber zu sprechen?
Leute lesen sich auch gegenseitig laut vor und es ist ihnen etwas peinlich. Bei so etwas würde ich auf jeden Fall die Vorleserin sein wollen, da ich kein Fan von Hörbüchern bin und nicht weiß, ob ich es mögen werde, wenn mir jemand anders vorliest, selbst wenn ich denjenigen gut kenne.
Lest ihr lieber stumm oder auch mal laut?
Ausgewählte Quellen (englischsprachig):
1. Do Pets Like Being Read To? The Surprising Benefits of Reading to Your Furry Friends. Auf: Doggie Dude Ranch and the O'Cat Corral
2. Sarah Manavis: Read me a story: why reading out loud is a joy for adults as well as kids. In: The Guardian (archive of The Observer), 5. Mai 2024
3. Regina Mennig: Shared Reading - Literature for All. Auf der Webseite der Robert-Bosch-Stiftung, Juli 2018
Es tut mir leid, daß meine Quellen meist nur englischsprachig sind, aber mein englischer Blog wird einfach mehr frequentiert und der Zeitaufwand für die Recherche ist oft so groß, daß ich nicht auch noch die Zeit finde, adäquate deutsche Quellen zu suchen. Sollte euch ein Artikel interessieren, gibt es Übersetzungsprogramme, die zumindest einen Eindruck vermitteln können.
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