"Ich sammle "Engelhörnchen"", sagte meine Kollegin. Mein leeres Starren verriet ihr wahrscheinlich, daß ich keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
"Wir haben welche hier in der Bibliothek, wissen Sie. Engelhorn's allgemeine Roman-Bibliothek." Ich wurde neugierig und schaute in unserem Katalog nach.
Engelhorn war ein Verlag in Stuttgart. "Eine Auswahl der besten modernen Romane aller Völker" - das hörte sich interessant an, vor allem weil es in unserem Magazin ein paar Hundert Bände zwischen 1884 und 1902 gab und sich die Titel faszinierend anhörten.
Tatsächlich hat die "Engelhörnchen"-Serie - ich nehme an, das war der persönliche Spitzname meiner Kollegin dafür, weil ich ihn nirgendwo online finden konnte - über 1000 Bände! Das bedeutet jedoch nicht über 1000 Romane, denn viele davon wurden in zwei Teilen veröffentlicht.
Sie fing 1884 an, es gab alle zwei Wochen einen (oder einen halben) Roman, nach 1924 dann weniger, bis die Serie schließlich nach 1930 eingestellt wurde.
Besonders war daran nicht nur der Preis von 50 Pfennig für die broschierten und 75 Pfennig für die leinengebundenen Bücher, sondern auch, daß nicht nur deutsche Autorinnen und Autoren erhältlich waren, sondern "alle Völker", das heißt England, Frankreich, Italien, Spanien, Rußland, Norwegen, Dänemark, Polen, die USA (und möglicherweise noch mehr, ich bin nicht die ganze Liste durchgegangen), und zwar in deutscher Übersetzung.
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Die Serie wurde der größte Erfolg des Engelhorn-Verlags und war so populär, daß mehr als 2 Millionen Bände verkauft wurden.
Als der erste Band herauskam, pries "Die Gartenlaube", ein "illustrirtes Familienblatt" der Zeit, Engelhorn dafür, daß er dem deutschen Volk die Gelegenheit gab, mehr "auswärtige" Literatur kennenzulernen, da "die Kenntniß der Literatur anderer Völker in Deutschland weit weniger verbreitet ist, als allgemein angenommen" (jedoch nicht ohne ihrer Hoffnung Ausdruck zu geben, daß Engelhorn die "schmutzigen und giftigen Auswüchse fremder Romanliteratur" ausschließen wird, mit einem extra Hieb gegen Émile Zola für seinen "derben, widrigen Realismus").
Das war im Laufe der Jahre nicht die einzige Quelle, die die "Roman-Bibliothek" lobte.
Es gab auch Serien von anderen Verlagen, aber nicht in derselben Qualität für einen so guten Preis.
Engelhorn druckte sogar eine Kritik in den Büchern ab. , wie die anderen ist This wasn't the only source approving of the "Roman-Bibliothek" over the years.
There were also series by other publishers, but not in the same quality for such a good price.
Engelhorn even printed one of the reviews in their books. Viel Spaß mit der Sprache.
Für diejenigen, die diese Schrift nicht (mehr) lesen können:
"Das ist ein Unternehmen, das in jeder Weise gefördert zu werden verdient! Als vor nun mehr denn 24 Jahren die ersten roten Bände erschienen, mag mancher Kurzsichtige und Engherzige den Kopf geschüttelt haben über das tolle Wagstück, wirklich gute und wertvolle geistige Kost zu so billigen Preisen zu verabreichen. Wenn man auf die lange Reihe von Jahren zurückblickt, wie viel ist da nicht schon erreicht! Fast kein Haus, keine Familie, wo die soliden Bände nicht ihren Einzug gehalten hätten; fast keine, noch so klein angelegte Privatbibliothek möchte die sich so freundlich präsentierenden roten Freunde aus ihrer Mitte missen. Und doch, noch gibt es viel zu tun! Noch gibt es Häuser, in denen die vermorschten und verrotteten Hintertreppenromane lieber gelesen werden. Hier wäre es Pflicht jedes Nächststehenden, die giftige Saat zu verdrängen und an ihre Stelle die gesunde und durchweg gute Kost der "Engelhornschen Allgemeinen Romanbibliothek" zu legen. Der glücklich Geheilte wird, wenn er erst klar sieht, dem freundlichen Helfer sicher Dank wissen."
Wow. Wenn das die Leute nicht davon abgehalten hat, heimlich Hintertreppenromane zu lesen, weiß ich nicht, was das sonst fertigbringen könnte!
Es ist besonders witzig, weil einer der wenigen Romane, dem ich auf Flohmärkten nicht widerstehen konnte, weil sie fast so günstig wie zum Originalpreis waren, von einem amerikanischen Autor ist, der für einige seiner Bücher keine allzuguten Kritiken erhielt.
Als wir die Reihe in unserem Bibliothekssystem erfaßten, pickte ich mir den einen oder anderen Band zum Lesen heraus, wenn mir ein Titel ins Auge sprang, wie zum Beispiel "Liebe und Gymnastik", was sich für mich wirklich lustig anhörte, dessen Originaltitel aber "Fra scuola e casa" war, was einfach "Zwischen Schule und Zuhause" heißt. Ich meine mich zu erinnern, daß es um eine Gymnastiklehrerin ging und daß die Dinge kompliziert waren, bin mir nach all den Jahren aber nicht mehr sicher, ob sie die Liebe tatsächlich fand.
Ich weiß, es hört sich so an, als würde ich mich über die Reihe lustig machen, aber das ist ganz und gar nicht meine Absicht. Ich denke einfach, es ist für eine solche Reihe gar nicht möglich, "durchweg gute Kost" anzubieten, und für uns heute könnte es sogar noch schwieriger sein, den Stil dieser Zeit zu genießen.
Übrigens habe ich die Bücher, die ich besitze, auch gelesen, erinnere mich aber an kein Wort mehr. Vielleicht sollte ich mal wieder eins probieren. Wie wäre es zum Beispiel mit den unheimlichen Geschichten von Dick-May (was übrigens das Pseudonym der französischen Autorin Rosalie Jeanne Weill ist)?
Sind die Bücher aber nicht wirklich hübsch? Es ist eigentlich schade, sie auf einem Regal stehen zu haben, sodaß man nur den Buchrücken sehen kann.
Da ich selber so wenige Bände habe, von denen zwei auch noch in braun und mit marmoriertem Papier neu gebunden wurden, kann ich nicht sagen, ob es noch mehr Versionen des Umschlags gab.
Hier sind Nahaufnahmen der beiden unterschiedlichen Logos mit dem Engel, der ins Horn bläst. Mir gefällt der detailliertere Engel, aber auch die Rosen des anderen Umschlags.
Was mir an alten Büchern auch gefällt, sind Exlibris.
Das erste zeigt einen Mann, der aus einem Brunnen mit einem Kopf auf dem Stein trinkt - für Walter Kopfstein.
Und hier ein völlig anderer heraldischer Stil.
Meine Kollegin ist schon lang im Ruhestand, ich frage mich, wie weit sie wohl mit ihrer Sammlung kam.
Ich selber werde mich zurückhalten. So interessant ich dieses Projekt auch finde und auch die Tatsache, daß die Reihe so lange erfolgreich lieft, habe ich doch nicht den Platz für 1000 Bände, die ich nicht lesen können werde. Vielleicht werde ich schwach werden, wenn sich mir ein billiges Exemplar in den Weg wirft, aber ich werde nicht aktiv danach suchen gehen.
Wenn ich eins lesen will, könnte ich das immer noch online tun, denn viele Bibliotheken haben diese Bände inzwischen digitalisiert. Das ist natürlich nicht dasselbe - ihr wißt, daß ich gedruckte Exemplare liebe -, aber sollte ich zum Beispiel Lust auf einen alten Abenteuerroman bekommen, weiß ich, wo ich suchen muß.
Quellen:
1. Engelhorns allgemeine Romanbibliothek. Auf Wikisource
2. Die Gartenlaube 1884, Heft 36. Auf Wikisource
3. Carl Engelhorn. Auf: Engelhorn Family Web Site. Zitat aus der Diplomarbeit von Sabine Schust: Carl Engelhorn und die Volksbibliothek Stuttgart, Seite 9 ff.
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