Komisch, ich war mir so sicher, daß ich schon mal über Isabels Tagebuch geschrieben habe. Ich kann den Post regelrecht vor mir sehen. Vielleicht wollte ich ja immer darüber schreiben und habe es dann vergessen, was seltsam ist, weil Isabels Tagebuch immer gut sichtbar bei mir steht und ich es im Vorbeigehen immer anschaue.
Dank eines Kommentars auf meinem englischen Blog zum Post über die Rose wurde ich wieder daran erinnert, darüber zu schreiben.
Wer Isabel ist, möchtet ihr wissen? Und warum ich ihr Tagebuch habe, ich neugierige Person ich? Nun, ich würde es auch gern wissen. Also wer sie war, meine ich.
Isabel ist eines dieser Geheimnisse, von dem ich immer wieder mal leicht besessen war.
Ich stieß auf einem fantastischen Flohmarkt in Marin County auf sie, vor vielen, vielen Jahren (der, auf dem ich auch meine geliebte Melone kaufte). Es ist erstaunlich, wie klar die Erinnerung an den Stand in meinem Kopf noch ist. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich das hier zum Nostalgie- statt zu einem Einfach nur so Samstag-Post hätte machen sollen.
Ich wurde von dem wunderschönen Ledereinband und dem Goldschnitt angelockt, ohne auch nur mehr als einen kurzen Blick in das zu werfen, was ich einfach für einen Kalender hielt.
Erst nachdem ich es gekauft hatte - ich meine mich zu erinnern, daß ich nicht sehr viel bezahlt habe - schaute ich es mir genauer an, während ich den Weg hinunterlief, und stellte fest, daß es sich tatsächlich um ein Tagebuch handelte, obwohl ich wirklich glaube, daß es eigentlich als Kalender gedacht war.
(Und schaut doch, in Deutschland gedruckt und dahin kehrte es nach 66 Jahren zurück!)
So sieht es innen aus.
Das Buch ist nach Tagen geordnet und jeder davon hat fünf Abschnitte, einen für jedes Jahr, nicht gerade große wie für ein Tagebuch, sondern für Termine und kurze Notizen.
Isabel tat ihr Bestes, um hinzuquetschen, was ihr wichtig war, aber wie das mit Tagebüchern eben manchmal so passiert, ließ sie eine Menge Seiten komplett leer.
Sie fing Weihnachten 1932 an, hörte am 20. April 1933 auf (die letzten paar Tage stand nur noch "Liebes Tagebuch" drin), und endete mit vier Einträgen im September und zwei weiteren am 5. November. Diese letzten waren wirklich interessant. Ihr werdet es sehen.
Während der Corona-Einschränkungen fingen andere an zu backen, ihre Sauerteig-Starter zu füttern, zu kochen, zu basteln, sich Haustiere zu holen.
Ich verbrachte einiges an Zeit damit, alle Einträge von Isabel in eine Textdatei zu abzuschreiben - mit allen Abkürzen, Schreibfehlern und verwirrenden Wörtern oder Namen - und fügte Informationen hinzu, wenn ich welche finden konnte. Ich nervte sogar einen Auskunftsbibliothekar in San Francisco, um in einem Fall etwas herauszubekommen (aber ach, kein Hilfsangebot, was ich etwas enttäuschend fand, er wies nur auf Quellen hin, die ich selber schon in meiner Anfrage aufgeführt hatte, aber auf die ich nicht zugreifen konnte). Ich habe keinen Zugang zu Ancestry oder Newspapers.com, also mußte ich mich an das halten, was leicht zugänglich war, aber dennoch fand ich das eine oder andere heraus.
Dies ist die Inschrift auf dem Titelblatt (übersetzt natürlich).
"Liebes Tagebuch: -
ich habe dich von Miss Esther W****** bekommen (sie hat den Namen natürlich ausgeschrieben), 125 Chestnut Ave., Naz. Pa. Du bist das erste in meinem Leben, mit Esthers Liebe werde ich bei dir das verstecken, was täglich geschieht.
Mit freundlichen Grüßen
Isabel"
Der erste Eintrag vom 1. Weihnachtstag 1932 erzählt uns, daß sie mit dem Stift schreibt, den sie von Ernest zu Weihnachten bekommen hat, und daß sie (da steht nicht wir, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß sie das meint) einen schönen Heiligabend hatten, an dem sie das "Baltaberin" besuchten. Tatsächlich war das ein Club in San Francisco, der "Bal Tabarin" hieß (nach einem Nachtclub in Paris) und den es heute noch gibt, allerdings unter anderem Namen, seit er 1951 verkauft wurde.
An Silvester erfahren wird, daß Isabel für ein Ehepaar in Palo Alto City arbeitet, das zu der Zeit in seinen 60ern ist (ich habe sie im Zensus 1940 gefunden). Aus ihren Erzählungen würde ich schließen, daß sie das Dienstmädchen war, sie erwähnt auch eine Köchin und einen Chauffeur. Oft schreibt sie, wie müde sie ist und früh zu Bett gehen muß.
Das Haus, in dem sie wohnten, wurde 1931 gebaut und wird im Moment auf 10 bis 11 Millionen Dollar geschätzt. Was für ein Schnäppchen.
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Eine willkürlich ausgewählte Seite |
In den nächsten paar Monaten, die sie abdeckt, erzählt Isabel davon, daß Ernie oft zu Besuch kommt und mit ihr in Palo Alto ausgeht, manchmal fahren sie aber auch nach "Frisco". Sie erwähnt ein paar Shows, Filme und Bücher, aber auch, daß sie und Ernie zusammen daheim Puzzles legen. Tatsächlich taucht Ernies Name ganz schön oft auf.
Am 7. März 1933 wird Isabel 24 und "hoffe, daß die nächsten vierundzwanzig Jahre besser als die letzten werden, immer noch Single". Ich hoffe, die Dauerwelle, die ihr ihre Schwester (Marie? Gewöhnlich nennt sie sie Sis) spendiert hat, sie ein wenig aufgemuntert hat und auch das "große Bouquet mit Rosen, Nelken, + Freesien von - Ernie". Am nächsten Tag schreibt sie, daß sie einen schönen Geburtstag hatte, "wenn man die schweren Zeiten bedenkt".
Ich werde euch jetzt nicht das ganze Tagebuch herunterschreiben, obwohl es einige interessante Einträge gibt. (Wofür brauchte Louis die 100 Dollar, die er borgen wollte? Und war Louis ihr Bruder? Ich schweife ab, tut mir leid.) Immerhin sind es 16 Seiten (meine Notizen eingeschlossen).
Vielleicht seid ihr aber so neugierig wie ich es war. Bekam Isabel ihr Happy End?
Ja, meine Lieben, das bekam sie.
Am 2. September 1933 fuhren Sie und Mell, ihr Ehemann, sie nach Reno. "Sie sind echt tolle Menschen. Was für ein wunderschöner Sonnenaufgang, als wir uns in den Armen liegend auf dem Rücksitz erwachten." Aww.
Am nächsten Tag heirateten sie dort um halb elf Uhr morgens mit Sis und Mell als Trauzeugen, und Sis lud sie zu einem Hochzeitsfrühstück ins Riverside Hotel ein. Das Gebäude existiert noch, es ist jetzt aber kein Hotel und Casino mehr.
Am 10. gaben Sis und Mell für sie eine Hochzeitsparty (gut zu hören, daß er sich doch noch beteiligte, nachdem er das Frühstück anscheinend seiner Frau überließ 😋).
Das war es doch wert, von April bis September ohne Neuigkeiten geblieben zu sein, findet ihr nicht? Dennoch, wieviel Umwerben haben wir da verpaßt (was vermutlich so am besten war)?
In den letzten beiden Einträge erfahren wir, daß sie sich in San Francisco häuslich eingerichtet haben. Ich habe die Adresse in einem alten Telefonbuch gefunden, aber keine passenden Vornamen, die meine endlose Neugier auf ihren Nachnamen befriedigt hätten. Ich gebe aber bei der Hochzeit in Reno noch nicht auf. Es ist drei Jahre her, daß ich das letzte Mal nachgeforscht habe, und ich denke, ich werde irgendwann nochmal einen weiteren Versuch starten.
Sis und Mell waren die ersten Gäste in ihrer neuen Wohnung (und feierten am nächsten Tag ihren Hochzeitstag).
Vielleicht fragt ihr euch, warum ich überhaupt so interessiert an Isabel bin.
Es ist wie mit Ida im Rosen-Post. Ich habe jetzt eine Geschichte im Kopf und zwar eine viel detailliertere dank dieser paar Monate, die Isabel, wenn auch unfreiwillig, mit mir geteilt hat.
Ich wünschte, ich wäre Schriftstellerin und könnte mit dieser Geschichte etwas tun, aber selbst als Kind habe ich Geschichten nur in in meinem Kopf zu meinem eigenen Vergnügen "geschrieben" (mit sehr wenigen Ausnahmen), also soll das vielleicht eben so sein.
Ich sehe den Stift vor mit, den Ernie Isabel geschenkt hat, das Bouquet. Ich weiß aus einem Maklerangebot, wie das Haus aussieht, in dem sie gearbeitet hat (obwohl ich mir sicher bin, daß es nicht genauso ausgesehen hat wie jetzt 😉). Ich sehe diese zwei Turteltauben über einem Puzzle. Ich stelle mir vor, wie Isabels Zimmer bei der Arbeit ausgesehen hat. Ich sehe sogar Florence und Joe, die Köchin und den Chauffeur, und habe völlig grundlos eine vage Vorstellung von ihren Arbeitgebern. Schande über mich, wahrscheinlich habe ich schon alle in Schubladen gepackt.
Und nun frage ich mich, ob sie Kinder hatten und Enkel. Mußte Ernie in den Krieg ziehen? War das Leben schwer? Arbeiteten sie beide? Womit hat Ernie überhaupt seinen Lebensunterhalt verdient? Waren sie glücklich miteinander? Sie hatten sich erst ein Jahr lang gekannt und heirateten, nachdem sie einen Monat lang verlobt waren.
Ich hoffe wirklich, daß das Leben gut zu ihnen war. In meinem Kopf bekommen sie ein erfülltes Leben und Glück. Hoffnungslos romantisch.
Nun ja, und natürlich eine letzte Frage - wie landete Isabels Tagebuch auf einem Flohmarkt? Gibt es da draußen noch irgendjemanden, der sie kannte? Gut, das waren zwei letzte Fragen.
Natürlich habe ich mich wie eine Schnüfflerin gefühlt oder tu das auch jetzt noch, aber andererseits standen keine wirklich intimen Dinge in dem Tagebuch, das kann ich euch versichern, und ich war froh darüber, denn wahrscheinlich hätte ich mich dann richtig schuldig beim Lesen gefühlt. Trotzdem hätte ich es getan, wenn auch nicht so öffentlich geteilt.
Isabel, falls du auf mich herunterschaust oder was auch immer, ich hoffe, du vergibst mir, daß ich in deinen "täglichen Ereignissen" herumgewühlt habe, die du "verstecken" wolltest.
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Ich weiß, es sieht sehr symbolisch aus, daß das Tagebuch offen ist - oh, und übrigens ist der Schlüssel noch da, in einem winzigen Umschlag - aber das ist reiner Zufall. |
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