Ist es möglich, daß ich bis jetzt noch keinen stummen Animationsfilm angeschaut habe? Von den alten, meine ich, denn natürlich sind viele Trickfilme auch heute noch stumm.
Filmhistoriker sehen übrigens "Fantasmagorie" von Émile Cohl als "die erste traditionelle Animation auf Standardfilm" an. Sie ist von 1908!
Gehen wir jetzt aber zum ersten abendfüllenden animierten Film über. Disneys "Schneewittchen", meint ihr? Nein, tut mir leid. Das würde nicht besonders gut zu meiner Stummfilmkategorie passen, oder?
Es ist "Die Abenteuer des Prinzen Achmed"
von 1926, geschrieben und unter der Regie von Lotte Reiniger, und ja, das ist tatsächlich der früheste abendfüllende Trickfilm, den es noch gibt (zwei frühere von Quirino Cristiani
gelten als verschollen) und der mit Silhouetten in Scherenschnitt-Technik gemacht wurde. Diese spezielle Technik wurde von Reiniger erfunden und verwendet Silhouetten aus Pappe und dünnen Bleiplatten. Sie erinnert an Schattentheater, wie zum Beispiel das indonesische Wayang, erlaubt aber mehr Bewegung dadurch, daß die Silhouetten flach aufliegen.
Die Handlung (Vorsicht, Spoiler!), die in fünf Akten erzählt wird, ist eine freie Adaption von Motiven aus Tausendundeine Nacht, wobei das zentrale Thema die Liebesgeschichte von Prinz Achmed und Pari Banu (anderswo Peri Banu genannt) ist.
Akt 1.
Der afrikanische Zauberer erschafft ein fliegendes Pferd. Er präsentiert es zum Geburtstag des Kalifen, weigert sich aber, es für Geld zu verkaufen. Der Kalif bietet ihm freie Auswahl aus seinen Schätzen an und der Zauberer wählt seine Tochter Dinarsade. Als Dinarsades Bruder Achmed das zu verhindert versucht, überredet der Zauberer ihn, das fliegende Pferd auszuprobieren, sagt ihm aber nicht, wie er es wieder sinken lassen kann.
Also ergreifen die Männer des Kalifen den Zauberer und werfen ihn in den Kerker.
Akt 2.
Achmed findet den Hebel durch Zufall und landet auf der Zauberinsel Wak-Wak, über die die schöne Pari Banu herrscht.
Sie und ihre Gefährtinnen, in fliegende Federkostüme gekleidet, kommen an einen See, um zu baden, und werden von Achmed beobachtet, der dann ihr Kostüm wegnimmt und sie entführt. Das fliegende Pferd bringt sie nach China.
Dort sagt er ihr, daß er sie heiraten will, gibt ihr dann aber ihr Kostüm zurück, damit sie entscheiden kann, ob sie gehen möchte. Sie entscheidet sich dafür, ihm zu folgen.
Inzwischen ist der Zauberer, in eine Fledermaus verwandelt, dem Kerker des Kalifen entkommen, nachdem er beschworen hat, wo sein Pferd ist. Er stiehlt das Kostüm. Achmed fällt ihn ein tiefes Loch, als er ihm folgt.
Der Zauberer geht zu Pari Banu zurück und gibt vor, Achmed habe ihn geschickt, dann bringt er sie auf dem fliegenden Pferd weg.
Akt 3.
Der Zauberer verkauft Pari Banu an den Kaiser von China. Als sie ihn zurückweist, gibt er sie seinem Liebling, damit er sie tötet oder zur Frau nimmt.
Der Zauberer ist zu Achmed zurückgekehrt und bringt ihn auf einen Berg, wo er ihn unter einem Felsen einklemmt, damit er zurück kann, um sich Dinarsade zu holen. Im Flammenberg lebt jedoch eine Hexe, die Feindin des Zauberers, die Achmed Waffen und eine Rüstung gibt, damit er Pari Banu retten und die Dämonen von Wak-Wak besiegen kann. Es gelingt ihm, Pari Banu zu retten, aber die Dämonen holen sich ihre Herrscherin, von der sie sich verraten fühlen.
Achmed zwingt den letzten Dämon, ihn nach Wak-Wak zu fliegen, er kann das Tor dort aber nur öffnen, wenn er Aladins Lampe hat.
Akt 4.
Achmed rettet Aladin vor einem Monster, ist aber entsetzt zu hören, daß die Lampe weg ist.
Aladin erzählt ihm die Geschichte darüber, wie ein Fremder ihm Dinarsade zur Frau versprochen hat, wenn er die Lampe für ihn aus einer Höhle holt. Aladin wird zum Gefangenen in der Höhle, entdeckt aber schließlich die Magie der Lampe, die ihn nach Hause bringt und ihm ermöglicht, über Nacht einen Palast zu bauen. Der Kalif gibt ihm Dinarsade zur Frau, aber eines Tages sind sie, der Palast und die Lampe verschwunden, vom Zauberer geraubt, und Aladin soll hingerichtet werden. Er entkommt und landet in Wak-Wak, wo ihn Achmed gefunden hat.
Die Hexe erscheint und beschwört auf Wunsch von Achmed und Aladin den Zauberer, um mit ihm zu kämpfen. Sie verwandeln sich von einem Tier in das andere, bis die Hexe den Feind besiegt und tötet.
Akt 5.
Die Dämonen wollen Pari Banu zwingen, von einer Klippe zu springen. Aladin versucht, die Geister der Lampe freizusetzen, aber die Dämonen nehmen sie ihm ab. Die Hexe holt die Lampe zurück und setzt die guten Geister frei, damit sie gegen die Dämonen kämpfen.
Ein vielköpfiger Dämon schnappt sich Pari Banu und Achmed greift ihn an, indem er seine Köpfe abschlägt, die jedoch doppelt nachwachsen. Die Hexe benutzt die Lampe, um das zu verhindern.
Nach dem Sieg über die Dämonen kommt Aladins Palast durch die Lüfte gesegelt. Wie versprochen behält die Hexe die Lampe und verabschiedet sich, da sie jetzt ins "Land der Sterblichen" zurückreisen.
Aladin findet Dinarsae im Palast, der sie nach Hause bringt, wo der Kalif die glücklichen Paare willkommen heißt.
Anscheinend fanden manche diese Handlung sehr verwirrend, vor allem wenn sie die Zwischentitel nicht verstehen konnten. Es gibt zwar englische Version, auf YouTube aber nur ein Video mit Untertiteln, das gedehnt ist und dem außerdem die schöne Originalmusik von Wolfgang Zeller fehlt.
Ich habe den Film hier auf YouTube angeschaut.
Wie ihr euch vorstellen könnt - immerhin sind wir in den 20ern - gibt es orientalistische Klischees. Ich frage mich, wie man das heute vermeiden am besten vermeiden würde, ohne daß man das Projekt einfach ganz sausen läßt. Was denkt ihr?
Vielleicht würden sie das Thema genauer recherchieren, um die Kulturen angemessener zu porträtieren - es wurde zum Beispiel angemerkt, daß Pari Banus Kleidung in China eher an Indien erinnert - und sie würden vielleicht offensichtliche Stereotypen und übertriebene Darstellungen von Aussehen und Benehmen der Figuren vermeiden - etwas, das Reiniger tatsächlich in ihrem späteren Werk anerkannt hat.
Würde es aber Sinn machen, bei etwas, das so klar auf Tausendundeiner Nacht basiert, Nationalitäten komplett außen vor zu lassen? Oder nur ein paar davon? Die Geschichte in etwas völlig Neues verwandeln, nur mit Elementen aus den Geschichten, die sie inspiriert hat?
Hinter dem Film steckt jedoch mehr.
Zunächst ein bißchen über Lotte Reiniger. Sie war erst 23, als sie mit dem Film begann. Sie hatte Scherenschnitte gemacht, seit sie ein Kind gewesen war, und es muß großartig für ssie gewesen sein, dieses Projekt finanziert zu bekommen. Außerdem liebte sie Märchen und man kann noch viel mehr davon in ihrem Werk finden, auch europäische.
Ihre Ansichten waren sozialistisch, obwohl sie sie nicht so offen äußerte wie zum Beispiel ihr Mann Carl Koch, mit dem sie an den meisten ihrer Projekte arbeitete.
Ich habe zwei lange Artikel über "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" gelesen, einen auf Deutsch von einer ehemaligen Professorin für Kunstgeschichte und einen auf Englisch von einer Assistenzprofessorin für Literaturwissenschaft, die beide anmerken, wie Reiniger versucht hat, Diversität in einer träumerischen Märchenumgebung zu ermutigen, auch wenn das leider auf orientalistischen Stereotypen und Karikaturen beruhte. Die Stichworte sind Erotik, Homoerotik und "Female Empowerment" (Stärkung von Selbstbestimmung, Selbstbewußtsein und Unabhängigkeit von Frauen).
Um ehrlich zu sein, sind die Männer im Film nicht sehr liebenswert.
Als der Zauberer Dinarsade für das fliegende Pferd verlangt, greift nicht ihr Vater ein, sondern Achmed, der sich dann prompt von der Aussicht ablenken läßt, das Pferd zu fliegen. Dafür wird der Zauberer verhaftet, nicht wegen Dinarsade.
Der Kalif bleibt recht inaktiv.
Achmed ist ein Voyeur und Entführer.
Aladin bekommt Dinarsade wegen des Zauberpalasts.
Sprechen wir nicht mal über den chinesischen Kaiser und seinen Liebling.
Nachdem Achmed ihr das Federkostüm zurückgibt, entscheidet Pari Banu aus eigenem freien Willen, ihm zu folgen (es hätte den Film ziemlich abgekürzt, wenn sie ihn stattdessen getreten hätte und davongeflogen wäre). Sie weist den chinesischen Kaiser zurück und wehrt sich gegen ihn.
Am mächstigen jedoch ist natürlich die Hexe. Ohne sie wären sie alle ganz schön verloren gewesen.
Die arme Dinarsade bekommt gar keine Gelegenheit zu glänzen.
Was die Homoerotik betrifft, so kannte Reiniger viele homosexuelle Männer und Frauen aus Film und Theater in Berlin und zielte aktiv darauf ab, Homosexualität anderes darzustellen, wie es sonst zu dieser Zeit in Deutschland getan wurde, als etwas Beiläufiges und Natürliches.
Ich hatte keine Erwartungen, als ich den Film anschaute, und muß zugeben, daß ich zunächst überrascht von der Sinnlichkeit und Lust war, die den gesamten Film über gezeigt wurde, obwohl manches davon im Rahmen eines orientalistischen Klischees war.
Der Film war, als bekäme man einen Einblick von außen in eine Märchenwelt, was natürlich viel damit zu tun hatte, wie sich die Charaktere bewegten.
Obwohl ich zuerst ein Video angeschaut hatte, in dem Reiniger den Prozeß zeigte, erkannte ich dank dieser fließenden Bewegungen keine tatsächlichen Scherenschnitte im Film, sondern Charaktere, nur auf mehr künstlerische und träumerische Weise als bei echten Menschen.
Natürlich halfen auch die Effekte sehr. Lichteffekte, Wasser, Feuer - es war sehr interessant, Reiniger darüber sprechen zu hören, wie manche dieser Effekte entstanden sind.
Es ist auf jeden ein Film, der es wert ist, gesehen zu werden, nicht nur wegen der Wirkung, die er hatte, auch wenn es natürlich toll ist zu wissen, daß eine so junge Frau zu den Pionieren der Animation gehört.
Quellen:
1. Die Abenteuer des Prinzen Achmed. Auf der Lotte Reiniger-Website
2. The Art of Lotte Reiniger, 1970 | From the Vaults (auf Englisch) Auf: Youtube - Kanal "The Met"
3. Im Gespräch mit Lotte Reiniger. Ausschnitte aus "Die Frau hinter den Schatten: Lotte Reiniger" von Brigitta Ashoff. 1980. Auf: YouTube - Channel "V.S.-Produktion"
4. Barbara Lange: Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926). Ein cineastisches Experiment. In: Animationen: Lotte Reiniger im Kontext der Mediengeschichte. Tübingen 2012 (reflex: Tübinger Kunstgeschichte zum Bildwissen, Bd. 5)
5. Lilith Acadia: 'Lover of Shadows': Lotte Reiniger's Innovation, Orientalism, and Progressivism (auf Englisch). In: Oxford German Studies 50(2), 150 - 168 (nur über Lizenzzugang verfügbar)
6. Scott Nye: Scott Reviews Lotte Reiniger's The Adventures of Prince Achmed (auf Englisch). Auf: CriterionCast, September 27, 2013
7. Fritzi Kramer: The Adventures of Prince Achmed (1926) - A silent film review (auf Englisch). Auf: Movies Silently, October 13, 2013
Es tut mir leid, daß meine Quellen oft englischsprachig sind, aber mein englischer Blog wird einfach mehr frequentiert und der Zeitaufwand für die Recherche ist oft so groß, daß ich nicht auch noch die Zeit finde, adäquate deutsche Quellen zu suchen. Sollte euch ein Artikel interessieren, gibt es Übersetzungsprogramme, die zumindest einen Eindruck vermitteln können.
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