Ich weiß nicht, ob mir das wirklich jemand erzählt hat, ob ich es mir selber ausgedacht oder geträumt hatte (was witzig wäre), aber im Alter von fünf glaubte ich, wenn man dreimal dasselbe träumte, würde es wahr werden.
Ich habe immer lebhaft geträumt und in späteren Jahren hatte ich auch sich wiederholende Träume, aber der besondere Traum, auf den ich damals wartete, wollte sich einfach nicht einstellen.
Also setzte ich mich auf meine Bettcouch, kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich sehr stark. Ihr möchtet wissen, wovon ich wollte, daß es wahr würde? Ich wollte sooo sehr ein lebendiges Kasperle haben.
Ich schlief nicht ein, ich träumte nicht, ich bekam kein lebendiges Kasperle, die Enttäuschung war groß.
Die Schuld für diese Enttäuschung gab ich Josephine Siebe und ihren Kasperle-Büchern.
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Eine leinengebundene Ausgabe des ersten Bandes von 1951 |
Die Geschichte des Kasperle (auch Kasperl oder Kasper, je nach Region) ist lang. Es ist eine Puppe (überwiegend Handpuppe), die ihren Ursprung vermutlich in Österreich hat. In deutschsprachigen Ländern kannte man sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts.
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Public Domain über Wikimedia Commons |
Ähnliche Puppen sind zum Beispiel Punch aus dem Vereinigten Königreich, Guignol aus Frankreich oder Pulcinella aus Italien.
Diese Art von Puppenspiel war urspünglich nicht auf Kinder ausgerichtet und konnte recht gewalttätig sein und später auch für politische Zwecke verwendet werden, zum Beispiel den Nationalsozialisten.
In den 20ern tauchte jedoch auch ein pädagogischer Kasper auf, der versuchte, ein jüngeres Publikum zu lehren, das Richtige zu tun. Dies ist auch die Art Puppentheater, die heute noch existiert.
Ein Freund von uns hatte als Hobby mit einem seiner Freunde ein Puppentheater aufgebaut. Nachdem dieser Freund verstorben war, nahm der Ex seinen Platz für gelegentliche Aufführungen in einer Bücherei ein. Natürlich war das lang, bevor alle möglichen Geräte komplett übernahmen.
Es war toll, die Reaktionen der Kinder zu sehen, die meinen sehr ähnlich waren, als ich als Kind ein Puppenspiel gesehen hatte. Ich habe keine Ahnung, ob das auch jetzt noch funktionieren würde oder ob die Kinder einfach immer jünger werden. Es gibt da draußen nämlich noch Puppentheater, ich sehe manchmal Plakate in der Stadt hängen.
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Eine Ausgabe des siebten Buches von 1957, die das typische Kasperle mit einer großen Nase, in bunter Kleidung und mit einer Zipfelmütze zeigt |
Aber was ist nun mit dem lebendigen Kasperle?
Mehrere Jahre lang arbeitete Josephine Siebe als Redakteurin für die Frauenbeilage einer Zeitung und schrieb Artikel, Rezensionen und Feuilletons, dazu gehörten auch Beiträge über die Frauenbewegung.
Zwischen 1900 und1940 schrieb sie fast 70 Kinderbücher, die bekanntesten sind die sieben Kasperle-Bücher, die zwischen 1921 und 1930 erschienen. Wie ihr daraus ablesen könnt, daß ich sie noch in den frühen 70ern gelesen habe, waren sie recht beliebt und tatsächlich sind sie noch gedruckt oder als E-Books erhältlich, die deutschen findet man außerdem auf Projekt Gutenberg-DE.
Siebes Bücher wurden von einigen der bekanntesten Illustratoren der Zeit illustriert, in Farbe oder in Schwarz-weiß.
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Kasperle trägt in dieser Szene nicht seine eigenen Kleider, da er sie, um weniger aufzufallen, zurückgelassen hat, was nicht zu klappen scheint! |
Die Geschichte beginnt in einem kleinen Waldhaus. In diesem Haus lebt ein Holzschnitzer, Meister Friedolin, mit seiner Frau Annette und ihrem Adoptivtöchterchen Liebetraut. Er schnitzt Kasperlepuppen und seine Frau macht die Kleidung dafür.
Eines Tages sagt Liebetraut, sie wünsche sich, die Puppen wären lebendig und Meister Friedolin erzählt ihr, daß sein Ur-Ur-Ur-Großvater ein lebendiges Kasperle hatte. Er war ihm eines Nachts im Wald begegnet und hatte ihn mit nach Hause genommen, dann begann er, nach seinem Vorbild Puppen zu schnitzen anstatt der Heiligenbilder und des Hausrats, die er vorher gemacht hatte. Nachdem Friedolins Vater aber gestorben ist, ging das Geheimnis, wo das Kasperle war, verloren.
Eine Weile später sucht Friedolin etwas in seinen Schränken und findet einen kleinen Spalt. Als er zieht, öffnet sich eine kleine Tür und heraus kommt das verlorene Kasperle! Sie finden eine Notiz bei ihm, in der steht, daß der Lehrbub des Vorfahren ihm einen Schlaftrunk gegeben hat. Nun verstehen sie auch, warum ein Händler aus der Stadt dauernd versucht, die alten Schränke zu kaufen. Er ist ein Nachfahre des Lehrbubs und wußte daher vom Kasperle.
Nach einem kleinen Streit rennt Kasperle in den Wald, reist dann herum und hat Abenteuer, mit einem Bauer, in einem Schloß, in einer Schule, mit einem Gärtner - und da trifft er Herrn Severin, der weiß, woher er gekommen ist. Kasperle ist nicht wie Pinocchio, der sich von einer Puppe in einen echten Jungen verwandelt hat. Er kommt von einer fernen Insel, wo die Kasperle leben, aber keiner weiß, wo diese Insel ist.
Am Ende bringt Herr Severin Kasperle ins Waldhaus zurück, verliebt sich in Liebetraut und heiratet sie. Kasperle ist glücklich darüber, zurück zu sein, denkt sich aber, auf der Insel, wo er zuhause ist, könnte es sogar noch besser sein.
Über die nächsten paar Bücher hat Kasperle viele Abenteuer und ich liebte sie alle. Er geriet oft in Schwierigkeiten, wurde eingesperrt und entkam wieder, hatte Feinde und sehr gute Freunde, kam nach Hause zurück, und er fand sogar seine Insel, verließ sie aber am Ende wieder, weil ihm seine Freunde fehlten.
Ich verbrachte als Kind so manch glückliche Stunde mit Kasperle und kaufte mir irgendwann selber ein paar ältere Ausgaben von allen sieben Büchern, die übrigens auch in mehrere Sprachen übersetzt wurden.
Wenn Kasperle zuviel gegessen hat oder irgendwo herunterfällt, ist er sich sicher, daß er sterben wird, aber statt "ich sterbe" sagt er "ich stirbse". Ich liebte dieses Wort, als ich klein war, und verwende es sogar heute noch manchmal.
Vielleicht ist Kasperle, wie ich selbst gern gewesen wäre. Er war völlig frei und impulsiv und dachte definitiv nie zuviel über etwas nach.
Habt ihr je von Siebes Kasperle gehört oder die Bücher vielleicht sogar selber gelesen?
Quelle:
Nina Preißler: Siebe, Josephine - Leipziger Frauenporträts. Auf: Webseite Stadt Leipzig, 2014
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