Heute habe ich noch einen Kurzfilm für euch. Als ich mit diesem Projekt anfing, fand ich eine Liste von Stummfilmempfehlungen. Der hier stan darauf und einen Western hatten wir ja noch nicht.
Betreten wir also die Welt des Westerns mit "Der großen Eisenbahnraub". Also irgendwie, aber dazu komme ich noch.
In den frühen 1900ern, als Filme noch eine Neuheit waren und überwiegend kurze Einblicke in das gewöhnliche Leben gegeben hatten - wer könnte den Zug vergessen, der in einen Bahnhof einfuhr oder Arbeiter, die eine Fabrik verließen, fesselnder Stoff! (ich will mich gar nicht lustig machen, zur der Zeit war es das wirklich) - war ein Film von 12 Minuten (obwohl die Versionen auf YouTube unterschiedliche Längen haben, vielleicht liegt es an der Geschwindigkeit?) und mit einer Handlung schon ziemlich unglaublich.
Erstmal zur Handlung (mit Spoilern).
Der Titel verrät ja schon etwas.
Zwei maskierte Männer dringen in ein Telegrafenbüro der Eisenbahn ein und zwingen den Mitarbeiter, den Zug anzuhalten und dem Lokführer die Anweisung zu geben, an dieser Station Wasser nachzufüllen, bevor sie ihn bewußtlos schlagen und fesseln.
Die Bande versteckt sich hinter dem Wassertank und schleicht sich dann in den Zug. Zwei der Banditen dringen in den Postwaggon ein, wo der Mitarbeiter gerade die Post prüft. Er wird getötet und die Räuber öffnen die verschlossene Geldtruhe mit Dynamit.
Inzwischen gehen die anderen Banditen zur Lokomotive. In einem Kampf auf dem Tender wird der Heizer getötet und vom Zug geworfen. Der Lokführer wird zum Abkoppeln der Lokomotive gezwungen. Die Banditen befehlen den Passagieren, die Waggons zu verlassen, und nehmen sich ihre Wertsachen. Ein Fahrgast, der zu entkommen versucht, wird erschossen.
Danach flüchtet die Bande in der Lokomotive. Nach ein paar Meilen verlassen sie den Zug und gehen zu ihren Pferden, die sie in der Nähe an ein paar Bäumen angebunden haben.
Die Szene schneidet zum Telegrafenbüro zurück, wo der Mitarbeiter versucht, telegrafisch um Hilfe zu bitten, bevor er wieder bewußtlos wird. Seine Tochter kommt herein, zerschneidet die Seile und weckt ihn auf, indem sie im Wasser ins Gesicht schüttet.
Als nächstes sehen wir Tänzer in einem Tanzlokal, als der Telegrafenangestellte hereinkommt, um zu erzählen, was geschehen ist. Die Männer nehmen sich ihre Waffen und verfolgen die Banditen.
Als sie sie finden, wird einer der Banditen erschossen, die anderen drei entkommen. Sich in Sicherheit wiegend, gehen sie die Postsäcke durch, aber der Suchtrupp schleicht sie ohne Pferde an sie heran. Ein Kampf bricht aus, der das Leben der Banditen und das einiger Mitglieder des Trupps kostet.
Der Anfährer der Outlaws zielt und schießt aus nächster Nähe auf die Zuschauer.
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Ihr denkt, ich habe das Bild versehentlich ein zweites Mal eingefügt? Nein. Aus dem Edison-Filmkatalog 1904: "Dieser Abschnitt der Szene kann entweder am Anfang gezeigt werden oder am Schluß, das darf der Vorführer entscheiden. |
Für einen Kurzfilm von 12 Minuten ist die Zahl der Toten ganz schön hoch (ich glaube, nicht mal "Inspektor Barnaby" könnte da mithalten).
Warum habe ich gesagt, daß dies "irgendwie" ein Western ist?
Für uns sieht er wie einer aus, wir haben Pferde, wir haben Cowboys, die ganze Umgebung paßt. Für die Leute damals aber konnte das ihr alltägliches Umfeld sein und der Film könnte direkt aus der Zeitung stammen.
Zugüberfälle "traten kurz nach dem Bürgerkrieg auf" und "waren in den 30ern überholt". Die Anzahl der Toten bei Räubern und Fahrgästen konnten hoch sein, vor allem, wenn sich Mannschaft und Passagiere wehrten, wenn aber alles klappt, konnte die Beute den Versuch durchaus wert sein. Da frühe Überfälle oft ungestraft blieben und Wertsachen nun eher mit dem Zug als mit der Postkutsche transportiert wurden, wurde die Vorstellung eines Verbrechens, für das man keine besonderen Fähigkeiten brauchte, in den USA recht populär.
Der "Wilde Westen" war auch schon zuvor auf Film gezeigt worden, zum Beispiel Aufnahmen von Annie Oakley oder Buffalo Bill, aber nie mit einer Handlung, also könnte man sagen, daß dies die Faszination für Western anstachelte.
Ich habe auch gelesen, daß dies der erste Film mit einer Geschichte war und auf einem Blog wurde tatsächlich erklärt, warum sie fanden, daß er mehr Geschichte erzählte als Méliès's Reise zum Mond, aber da konnte ich nicht zustimmen. Dann fand ich ein Zitat aus einem TCM-Artikel. Der Link funktionierte nicht mehr, aber im Zitat hießt es, daß der Film "der erste einflußreiche erzählerische Film wurde, in dem der Schnitt fantasievoll war und zur Erzählung beitrug."
Damit konnte ich leben.
Der Film nutzte Parallelmontagen, also das Hin- und Herwechseln zwischen zwei Szenen, die zeitgleich geschehen, in diesem Fall zwischen den Banditen und dem Suchtrupp.
Während es zwar Sets gab, die wie eine Bühne aussahen, spielt ein großer Teil der Handlung auch draußen, was dem Film ein realeres Aussehen gab, und nochmal, die Handlung war etwas, das die Leute nachvollziehen konnten, entweder weil sie dort lebten oder durch Zeitungsartikel.
Es ist etwas amüsant, hier die "Uhr" an der Wand zu sehen, aber zur selben Zeit sieht man einen Zug an dem großen Fenster vorbeifahren. Hier ist es ein sogenannter "matte shot", der der Szene Wirklichkeit verleiht.
Oder nehmt diese Szene. Ihr habt nich nur den "Spezialeffekt" der Explosion, sondern im Hintergrund seht ihr auch durch die offene Waggontür, daß der Zug an Bäumen vorbeirauscht, ebenfalls ein "matte shot".
Der Film war ein Riesenerfolg. Stellt euch mal vor, wie er auf das Publikum gewirkt haben muß.
Er war dynamisch, zeigte Gewalt und Gerechtigkeit, und es gab sogar einen komischen Moment, als ein Mann in das Tanzlokal kommt und die Männer auf seine Füße schießen, um ihn zum Tanzen zu bringen (wenn das mal kein Cowboyklischee ist, aber so etwas scheint tatsächlich vorgekommen zu sein). Es ist kurz, es hat nichts mit dem Rest des Films zu tun, aber sogar heute noch haben wir manchmal solche Szenen. Alles, um die Zuschauer zu unterhalten.
Auf uns wirkt manches davon heute witzig, so wie die offensichtliche Puppe, die der Bandit vom Zug wirft. Mir machte allerdings nicht mal der Draht in Dracula fast 30 Jahre später etwas aus. Wer weiß, wäre es ein Keaton-Film gewesen, hätten sie vielleicht einen Stuntman runtergeworfen.
Ich war beeindruckt von der Menge an Fahrgästen, die aus dem Zug aussteigen. Ich gestehe, ich mußte kurz an ein Clownauto denken, aber dann fielen mir Erinnerungen an meine Pendlerei ein und plötzlich wirkten die Anzahl der Fahrgäste auf mich ganz normal.
Und das theatralische Spiel? Ich hab's geliebt. Wenn man schon nicht schreien kann, wenn man stirbt, sollte einem wenigstens erlaubt sein, dramatisch zu sterben. Je mehr Stummfilme ich anschaue, um so mehr schließe ich meinen Frieden mit gewrungenen Händen und Augenrollen.
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Glaubt es oder nicht, dieser Schauspieler - Gilbert M. Anderson - ist außerdem einer der Banditen und auch das Greenhorn in der Tanzlokalszene, er wurde später als "Broncho Billy" ein richtiger Westernstar. |
Wenn ihr Western mögt, sollte ihr diesem Film eine Chance geben.
Es gibt auch Versionen, in denen einige der Kleider oder Effekte handbemalt sind, aber nicht die, die ich angeschaut habe, also kann ich euch nicht sagen, ob das die Erfahrung noch steigert.
Der Film inspirierte übrigens auch einen weiteren vom selben Regisseur, Edwin S. Porter.
Ihr könnt "Der kleine Eisenbahnraub" von 1905, der uns eine Kindergang zeigt, die für Süßigkeiten einen Miniaturzug überfallen, hier anschauen. Ich fand das Ende klasse. Es war aber nicht jeder so glücklich mit diesem Kurzfilm, weil sie dachten, er würde Kinder zu Kriminellen machen!
Ausgewählte Quellen (englischsprachig):
1. Fritzi Kramer: The Great Train Robbery (1903) A Silent Film Review. Auf: Movies Silently, 3. November 2013
2. Jeff Arnold: The Great Train Robbery (Edison, 1903). Auf: Jeff Arnold's West, 8. März 2021
3. Chris Scott Edwards: The Great Train Robbery (1903). Auf: Silent Volume, 12. Juli 2009
4. The Fascinating Story of 1903's Biggest Movie. Auf dem YouTube-Kanal "Toni's Film Club"
5. Rick Ruddell und Scott Decker: Train Robbery: A Retrospective Look at an Obsolete Crime. In: Criminal Justice Review, 42(2017),4, Seiten 333 - 348 (Closed Access)
Es tut mir leid, daß meine Quellen meist nur englischsprachig sind, aber mein englischer Blog wird einfach mehr frequentiert und der Zeitaufwand für die Recherche ist oft so groß, daß ich nicht auch noch die Zeit finde, adäquate deutsche Quellen zu suchen. Sollte euch ein Artikel interessieren, gibt es Übersetzungsprogramme, die zumindest einen Eindruck vermitteln können.
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