Dienstag, 16. Dezember 2025

Geistergeschichten an Weihnachten?

Im August fand ich das Buch "Told After Supper" ("Erzählt nach dem Abendessen") von 1891, in dessen Einleitung der Autor Jerome K. Jerome schrieb "Wann immer sich fünf oder sechs englischsprachige Leute an Heiligabend um ein Feuer versammeln, fangen sie an, einander Geistergeschichten zu erzählen. Nichts macht uns an Heiligabend zufriedener als uns gegenseitig authentische Anekdoten über Erscheinungen erzählen. Es ist eine leutselige, festliche Jahreszeit, und wir lieben es, über Gräber, Leichen, Morde und Blut zu sinnieren."

Foto von Phil Robson über Unsplash

Ja, es gab die viktorianische Tradition, an Heiligabend Geistergeschichten zu erzählen, und obwohl es keine Tradition ist, die so wirklich am Leben gehalten wurde, wird doch noch viel darüber gesprochen, selbst in Ländern, wo sie nie praktiziert wurde.
Nehmt die USA. Geister bekommen ihren exklusiven Auftritt an Hallowe'en, und obwohl eine Menge der heutigen Weihnachtstraditionen, die von Einwanderern ins Land gebracht wurden, auf alte Zeiten zurückgehen, sind Geistergeschichten nicht darunter. Und doch gibt es eine Zeile in dem Lied "It's the Most Wonderful Time of the Year" von 1963, die so heißt "There'll be scary ghost stories and tales of the glories of Christmases long, long ago.", also "Es gibt gruselige Geistergeschichten und Erzählungen über die Herrlichkeit längst vergangener Weihnachten."

Bild aus "Erzählt nach dem Abend-
essen" von Kenneth M. Skeaping

Weihnachten war schon immer mit Aberglauben verbunden.
Im Deutschen haben wir die Rauhnächte, normalerweise der Zeitraum zwischen Weihnachten und den Heiligen Drei Königen, obwohl die Zeiträume auch anders sein können, zum Beispiel mit Beginn zur Wintersonnenwende.
Die Wortherkunft ist unklar, es könnte "haarig" bedeuten, sich aber auch auf das Beräuchern der Ställe mit Weihrauch beziehen, was die Tiere vor den Dämonen und Geistern schützen soll, die in diesen Nächten durch das Land streifen.
Natürlich gibt es auch die Erzählungen von der Wilden Jagd.
Es heißt außerdem, daß Tiere während dieser Zeit sprechen und die Zukunft vorhersagen können. Eine weitere Version ist, daß die Tiere an Weihnachten um Mitternacht sprechen können, nur eine Stunde lang, um die Geburt Christi zu verkünden. Man darf aber nicht dabei zuhören, sonst stirbt man.
Es gibt noch viele weitere Mittwintertraditionen, wie den ziemlich gruseligen Krampus oder die Perchten, von denen manche wieder populärer geworden sind.
Also hören sich Geistergeschichten gar nicht mal mehr so ungewöhnlich an, oder?

Bild aus "Erzählt nach dem Abendessen"
von Kenneth M. Skeaping

Würde ich euch fragen, welche Weihnachtsgeistergeschichte euch als erstes einfällt, wäre es eine ziemlich sichere Wette zu glauben, daß ihr "Eine Weihnachtsgeschichte" von 1843 sagt.
Um diese Zeit herum wurden Weihnachtstraditionen in Großbritannien neu bewertet, aber auch neue eingeführt, wie zum Beispiel Weihnachtskarten und -bäume (der erste Baum in England wurde übrigens von Queen Charlotte aufgestellt, obwohl die Idee erst durch Albert und Victoria beliebt wurde).
Wenn wir an britische Weihnachten denken, wandern unsere Gedanken wahrscheinlich als erstes zu den Bildern, die dank zahlloser Adaptionen von Dickens' Novelle in unseren Köpfen eingeprägt sind - Bilder von Großzügigkeit, Familientreffen, besonderem Essen, Getränken und Spielen. Und singenden Muppets (nachdem ich sie letztes Jahr endlich zu sehen bekam).

Es war nicht die erste Weihnachtsgeschichte, die Dickens schrieb, und er war auch nicht der erste, der eine schrieb.
Es war auch nicht seine letzte Geistergeschichte. Die Weihnachtsausgaben der Magazine, die er herausgab, zuerst "Household Words", dann "All the Year Round", enthielten ebenfalls jedes Jahr Geistergeschichten.
Die Wurzeln der viktorianischen Geistergeschichte liegen in einer abergläubischen ländlichen Kultur, die sie auf nostalgische Weise in die weltlicheren und modernen Zeiten der industriellen Revolution bringt. Sie versetzt außerdem Geister von den Schlössern in das private Heim, was impliziert, daß jedermann heimgesucht werden kann. Das scheint bei der Leserschaft einen Nerv getroffen zu haben und auch andere Veröffentlichungen folgten Dickens' Beispiel.
Übrigens wurden "in etwa 50 bis 70 % von Weihnachtsgeistergeschichten, die in der viktorianischen Zeit veröffentlicht wurden, von Frauen geschrieben".


Bild aus "Erzählt nach dem Abend-
essen" von Kenneth M. Skeaping

Also ja, warum probiert ihr es nicht mal an Heiligabend aus?
Versammelt die Familie, sucht eine schöne viktorianische Geistergeschichte aus (hier ist eine englische Literaturliste, schaut doch mal, welche Autor*innen ihr online auf Deutsch finden können, immerhin ist das alles inzwischen gemeinfrei ... es gehen aber auch deutsche Geistergeschichten) und habt Spaß.
Vielleicht wird das ja eure neue Lieblingstradition an Weihnachten!

"Christmas Story-telling" von Sir John Everett Millais (Illustrated London
News, Christmas Supplement, 20. Dezember 1862, Seite 672)


Quellen:

1. Colin Dickey: A Plea to Resurrect the Christmas Tradition of Telling Ghost Stories. In: Smithsonian Magazine, 15. Dezember 2017
2. Josie Q.: Christmas Ghosts: A Victorian Tradition. Auf: A Biblioteca Noturna, 14. Dezember 2021
3. Caley Ehnes: "Winter Stories - Ghost Stories... Round the Christmas Fire": Victorian Ghost Stories and the Christmas Market. In: Illumine, 11, 2012, 1, Seiten 6 - 25 (veröffentlicht 2014, https://doi.org/10.18357/illumine.ehnesc.1112012)
4. Simon Cooke: Victorian Ghost Stories. Auf: The Victorian Web, Juni 2021


Es tut mir leid, daß meine Quellen meist nur englischsprachig sind, aber mein englischer Blog wird einfach mehr frequentiert und der Zeitaufwand für die Recherche ist oft so groß, daß ich nicht auch noch die Zeit finde, adäquate deutsche Quellen zu suchen. Sollte euch ein Artikel interessieren, gibt es Übersetzungsprogramme, die zumindest einen Eindruck vermitteln können.

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