Dienstag, 12. August 2025

Aus meinem Kinderbuchschrank - Der kleine Nick

"Der kleine Nick" war sowas von beliebt hier in Deutschland, als ich ein Kind war, und das ist er auch noch bei vielen Leuten, nicht wenige davon sind die, die wie ich mit ihm aufgewachsen sind.


Nick fing als Comicstrip an, aber wirklich populär wurde er, als er in einer Kurzgeschichte auftauchte, die von René Goscinny (dessen "Asterix"-Texte für unzählige Kinder der erste Lateinunterricht waren) geschrieben, von Jean-Jacques Sempé (auch für seine Cover für "The New Yorker" bekannt) illustriert und 1959 im Sonntagsmagazin der Zeitung "Sud Ouest" veröffentlicht wurde.
Dank der plötzlichen Beliebtheit erschienen die Comics bis 1965 in der "Sud Ouest" und später auch im "Pilote2.

Das erste Buch war nicht erfolgreich, bis Goscinny und Sempé in eine Literatursendung im Fernsehen eingeladen wurden, danach veröffentlichten sie zwischen 1960 und 1965 fünf Bücher.

Heute ist "Der kleine Nick" ein französischer Klassiker und das nicht nur in Frankreich.
Nicks Welt ist nicht die Welt von heute. Es war nicht mal die Welt aus der Zeit, in der die Bücher geschrieben wurden. Es gibt keine Politik, es gibt keinen Krieg, es gibt keine großen Probleme.
Es gibt Nick und seine kleine Welt, seine Eltern, seine Freunde, Schule, und davon erzählt er uns von seinem Standpunkt aus und in der Art, wie ein Kind oft eine Geschichte erzählt, naiv, geradeheraus, in Bandwurmsätzen, die manchmal etwas atemlos wirken (in der deutschen Übersetzung wird davor gewarnt, den Stil in der Schule zu verwenden, weil er Lehrer nicht glücklich macht
 😉 ich fürchte aber, das ist manchmal der Stil, den ihr auf meinem Blog seht, jetzt wißt ihr warum).


Im französischen Original ist vieles "chouette", im Deutschen als "prima" übersetzt, was heute wahrscheinlich nicht mehr viele junge Leute verwenden und was sehr Slang dieser Zeit war. Witzig ist, wie schnell sich etwas von "prima" in etwas ändern kann, was ihn zum Heulen bringt, dann geht es aber direkt wieder zu "prima" zurück, wenn sich das auflöst.
Sein Gedankengang kann von einem zerbrochenen Ladenfenster zu dem netten Ladenbesitzer gehen und wie seine Mutter dort einkauft und zum Beispiel Marmelade besorgt, Erdbeere ist am besten, weil sie keine Steine hat und prima ist. Ganz ehrlich, das könnte ich sein.
Nick und seine Freunde leben absolut im Moment (außer wenn sie planen wegzulaufen, siehe weiter unten).

Sowohl Goscinny und Sempé hatten keine einfache und glückliche Kindheit, aus unterschiedlichen Gründen, und sie machten Nicks Kindheit zu einer, die sie nicht haben konnten.
Das heißt nicht, daß es überhaupt keine Konflikte gibt. Nick und seine Freunde kriegen oft Krach und auch die Erwachsenen streiten sich immer wieder, in der Familie oder mit den Nachbarn, aber wie Sempé gesagt hat, war es eine Traumkindheit für ihn - Prügel, die nicht wehtaten und Streit, der nicht in Trennung endete.

Sowieso ist Nicks Welt hauptsächlich die von Jungs. Es gibt zwar Mädchen, aber sie treten selten auf, und Nick ist sich über die meisten von ihnen erstmal unsicher, aber besonders eine Geschichte zeigt, daß Mädchen gar nicht mal immer so anders sind, und er ändert seine Meinung.



Außerdem gibt es natürlich keine modernen Erfindungen und Spielzeuge. Es gibt keine Computer, keine Smartphones, aber eine Menge wilder Vorstellungskraft.

Ist es dann einfach nur eine nostalgische Freude, diese Bücher zu lesen, für Erwachsene, die ihre eigene Kindheit idealisieren und vermissen? Nein.
An diesen Büchern ist mehr dran ... es gibt ja noch die Eltern, die Lehrer, die Nachbarn, die Lagerchefs, die Ladenbesitzer und so weiter.
Dies sind die Teile, die Erwachsenen vielleicht viel mehr Spaß machen als Kindern, weil es die natürliche Anarchie von Kindern zeigt, die die Erwachsenen zur Verzweiflung treiben kann - der Fotograf, der vergeblich versucht, die Klasse unter Kontrolle zu bekommen, damit er ein gutes Bild machen kann, der "Chef" im Sommerlager, der den Bettel schon nach einem Tag hinschmeißen will, die Eltern, die mehrere Male frühmorgens geweckt werden, weil Nick eine neue Uhr bekommen hat und sie für einen guten Zweck benutzen will (dafür zu sorgen, daß sein Vater nicht zu spät zur Arbeit kommt), der Verkäufer in einem Laden voller zerbrechlicher Stücke, der von den Jungs überrannt wird, weil sie ein Geschenk für ihre Lehrerin kaufen möchten.
Natürlich liegt der Humor hier in der Übertreibung, aber wir erkennen oder erinnern uns vielleicht doch an den einen oder anderen Vorfall, der eine ähnliche Geschichte inspirieren können hätte.


Was mir mit am besten gefällt, ist das Fußballspiel, das damit beginnt, daß die Jungs spielen, aber dann "unterstützen" die Väter sie, bis sie komplett übernommen haben und nicht mal bemerken, daß ihre Söhne sich inzwischen schon zum Haus eines Freundes verdrückt haben, um dort Fernsehen zu schauen (was zu der Zeit ja noch nicht alle hatten).


Das Zeitlose an diesen Geschichten ist die Freundschaft und Liebe. Egal wie oft einer der Jungs damit droht wegzulaufen, weil etwas nicht nach ihrem Willen geht, und nicht mehr heimzukommen, bevor sie eine Menge Geld, ein Auto und ein Flugzeug haben, am Ende könnten sie nicht glücklicher darüber sein, wieder daheim zu sein und einen guten Nachtisch zu bekommen. Nachtisch wird sehr oft erwähnt.

Idealisiert? Sicher. Witzig? Auf jeden Fall. Eine Flucht? Ja. Aber brauchen wir nicht alle immer wieder mal so eine kleine Flucht, damit wir dann die Realität aushalten können? Ein Kichern, ein Lachen, ein wenig Erleichterung?

P.S. 2004 fand Goscinnys Tochter Anne übrigens unveröffentlichte Geschichten von Nick auf dem Dachboden, deren sich nicht mal Sempé bewußt gewesen war. Ihr Vater war 1977 recht jung gestorben, aber Sempé war noch da und er machte Zeichnungen dafür.
In Deutschland machte sich der Übersetzer, der auch an den Originalbüchern gearbeitet hatte, nochmal an die Arbeit, obwohl er schon über 80 war. Ich weiß nicht, daß nicht jeder mit seinen Übersetzungen glücklich ist, aber mein Schulfranzösisch ist nicht mehr gut genug, um selber ein Urteil darüber abzugeben.
Möglicherweise mögen sie die "Domestication" nicht (lest mehr darüber in meinem Post hier), in diesem Fall wurden die französischen Namen von Personen und Städten durch deutsche ersetzt. Ich finde, das war hier in Ordnung so, weil die ursprünglichen Namen sogar für Frankreich etwas ungewöhnlich waren. Außer in der allerersten wurden die Namen übrigens auch in der englischen Übersetzung ersetzt.

Meine persönlichen Exemplare der Bücher sind ganz besonders für mich, weil sie auch noch ihre eigene Geschichte haben, davon erzähle ich euch aber in einem anderen Post.



Quellen:

1. "Le petit Nicolas" Original-Webseite (auf Französisch)
2. Jürgen Ritte im Gespräch mit Frank Meyer: Der große kleine Nick. Auf: Deutschlandfunk Kultur, 30. März 2009
3. Bettina Kugler: Grosser kleiner Nick. In: Tagblatt, 20. April 2009
4. Volker Weidermann: Fünfzig Jahre "kleiner Nick": Freund fürs Leben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. März 2009
5. Torsten Landsberg: Zuflucht in der Kunst - Sempé zum 85. Auf: DW. Kultur, 17. August 2018
6. Interview mit Anne Goscinny. Auf: Weltexpresso - Online-Magazin für Zeitgeschehen, Film, Kunst, Literatur und Musik, 2. Dezember 2022

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