Samstag, 14. Juni 2025

Einfach nur so Samstag - Poesiealbum

Kürzlich habe ich meine Bücherschränke durchwühlt. Wo war es nur? Ich war mir so sicher, daß es immer genau hier war. Welches Schränkchen, welche Schublade oder welchen "sicheren Platz" hatte ich diesmal geistesabwesend ausgesucht?
Ich spreche von meinem Poesiealbum, diese Tradition, die es seit Jahrhunderten gibt, überwiegend in den europäischen Gegenden, in denen Deutsch oder Holländisch gesprochen wird.
Danke an meine Freundin (eine meiner Schwestern hat ihr Album auch nicht gefunden und die andere hat meine Freundin davor bewahrt, ihres zu suchen), die so nett war, mir Bilder von ihrem Album zu schicken, um diesen Post zu illustrieren. Natürlich habe ich die Namen und den Ort weggemacht.



Die Tradition begann im frühen 16. Jahrhundert mit dem "Stammbuch" oder "Album Amicorum" und zwar im Umfeld der Wittenberger Reformatoren. Anhänger von Luther und seinen Weggefährten baten diese zur Erinnerung an ihre Verbindung mit ihnen um handgeschriebene Notizen.

"Stammbücher" konnten Bücher sein, oft theologische, denen leere Blätter hinzugefügt waren, aber auch lose Seiten, die dann in Bibeln eingebunden werden konnten.

Anfangs war diese Tradition nicht auf akademische Kreise beschränkt, aber doch auf protestantische. Als sie hauptsächlich von der akademischen Gemeinschaft übernommen wurde, weil Studenten Notizen von Kommilitonen, aber auch Professoren sammelten, verbreitete sie sich in anderen Ländern und auch unter Katholiken.
Einige Zeit lang wurde sie außerdem vom Adel angenommen, bei dem es bereits die Sitte der Gästebücher gab.

Gewöhnlich wurden diese Alben während der Studienzeit oder auf Reisen benutzt, was dann mit dem Beginn der Ausübung eines Berufs endete. Sie wurden nicht nur aus sentimentalen Gründen geführt, um sich an Freunde aus dieser Zeit zu erinnern, sondern auch um möglicherweise hilfreiche Referenzen zu sammeln.

Während die Tradition im frühen 19. Jahrhundert überwiegend aus akademischen Kreisen verschwunden war, hielt sie das Bürgertum, das sie im späten 18. Jahrhundert übernommen hatte, am Leben. Nun sammelten auch Frauen und Kinder Einträge von Familie und Freunden und das "Stammbuch" wurde zum "Poesiealbum", was auch bedeutete, daß sich die Art der Einträge veränderte und von
"Meinungsführern in Fragen des künstlerischen Geschmacks" abgelehnt wurde, die sie zu trivial fanden.


Sie veränderten sich aber sogar noch mehr, besonders nachdem das Poesiealbum überwiegend ein Ding der Grundschulzeit wurde.
Die Einträge konnten alles Mögliche sein, einzelne Gedichtverse, Zitate, Ratschläge, Ermahnungen, religiös oder weltlich, aber zu meiner Zeit waren viele der kleinen Gedichte - von denen so manche regelmäßig auftauchten, auch weil manche Klassenkameradinnen (es waren meistens Mädchen) für jedes Album dasselbe verwendeten - Beteuerungen ewiger Freundschaft oder sie waren humorvoll, manchmal auch beides.

Hier ist ein Beispiel für ersteres:
Ich hoffe herzlich, daß du mich nicht so schnell vergißt. Und dies Besondere wünsch ich; bleib' grad so, wie Du bist!



Ich kann mich nicht mehr an die ersten Einträge erinnern, die ich schrieb, aber nach einer Weile wurden mir die üblichen Zitate oder Sprichwörter langweilig, also benutzte ich stattdessen Gedichte von Heinz Erhardt, zum Beispiel das darüber, warum die Zitronen sauer wurden. Wenn ich nach dem gehe, was ich so gelesen habe, haben das nicht so viele Kinder gemacht.

Normalerweise schrieb man auf die rechte Seite und auf der linken Seite war irgendein Bild.
Sehr beliebt waren natürlich Glanzbilder von Kätzchen, Welpen, Vögeln, Blumensträußen (manchmal in Körben), Engeln, noch besser (und teurer), wenn sie glitzrig waren. Man kann sie übrigens auch heute noch bekommen. Als wir für jemanden bei der Arbeit, der in den Ruhestand ging, eine Art Poesiealbum machten, habe ich für das Nostalgiegefühl welche besorgt.




Meine Patentante klebte eine gepreßte Blume in mein Album, sicher mit Klebefolie abgedeckt.
Es gab aber auch eine Menge Zeichnungen. Oder eine Mischung aus Glanz- und gezeichneten Bildern. Ich selber zeichnete schlechte Illustrationen, die zu den von mir ausgewählten Gedichten paßten, zum Beispiel Zitronen mit Strichbeinchen.



Wenn ich mir Albumseiten anschaue, die andere teilen, sehen sie für mich immer so vertraut aus.
Wir hatten noch Schönschreibunterricht in den unteren Klassen - ich bekam nie eine Eins, egal wie sehr ich mich bemühte - und natürlich wurde von uns auch erwartet, das auf die Alben anzuwenden.
Deshalb könnten viele dieser Seiten auch geradewegs aus meinem eigenen Album sein, bis hin zu den Verzierungen, den Eselsohren, die kleine "Geheim"nachrichten verbargen, die Bleistiftlinien, die dafür sorgen sollten, daß die Zeilen alle gerade waren (manchmal hinterher rausradiert, manchmal nicht, manchmal schlecht) - und die Schreibfehler!
Natürlich schrieben wir damals mit Füller und immer wieder mal sieht man Buchstaben, die mit "Tintenkiller" getilgt wurden (und die nach einer bestimmten Zeit wieder zurückkamen) oder auch durchgestrichen sind.
Wenn man ein Poesiealbum hatte, mußte man mit all dem leben, denn man hatte absolut keinen Einfluß darauf, was die anderen schrieben, wie schön sie schrieben oder auch nicht oder wie unordentlich es wurde.

Ich hatte diese "Bilder" aus verriebenen Bleistiftlinien
beinahe vergessen!

Mein Album ist ganz schön unordentlich, was aber nicht völlig die Schuld der anderen ist.
Ich hatte für meine Mutter eine Stelle reserviert und auch eins der begehrten Glanzbildchen. Eine Schulfreundin meinte, es sei zum Benutzen gedacht und klebte es ein. Ich riß es wieder heraus, was natürlich häßlich aussah, also klebte ich die Seiten zusammen.

Die, die mir schon eine Weile folgen, wissen von meiner schwierigen Beziehung mit Klebstoff ... ja, es sah gräßlich aus und außerdem fühlte ich mich wirklich schuldig, weil ich dadurch den Eintrag meiner Schulfreundin versteckte. Es tut mir so leid, Brigitte, ich war erst 6 und von Emotionen überwältigt, als ich das tat.
Übrigens ... meine Mutter kam nie dazu, tatsächlich in mein Album zu schreiben, obwohl ich einmal eine Notiz mit einem Entwurf fand (ich wußte, sie wollte nicht gern, weil sie ihre eigene Handschrift nicht mochte), also war das ganze auch noch umsonst gewesen.

Ich bin immer fasziniert davon, wie schön und sauber ältere Alben aussehen, wunderschöne Handschrift, manchmal mit Zeichnungen, wirklich hübsch.

Bild über pxhere

Interessant ist, daß es tatsächlich solche Bücher im US-Amerika des 19. Jahrhunderts gibt, wahrscheinlich von deutschen oder holländischen Einwanderern eingeführt.
Sie haben sich aber nicht behaupten können und wurden durch die beliebteren Jahrbücher ersetzt.

Das Poesiealbum bekam schließlich einen Nachfolger, das sogenannte Freundschafts- oder Freundebuch, was ganz witzig ist, da das die Bedeutung des alten lateinischen Namens ist.
Es bringt uns aber nicht in diese alten Zeiten zurück.
Das Freundschaftsbuch sieht sehr nach einer Sammlung von Fragebögen mit vorgedruckten Kategorien aus - Name, Hobbys, Vorlieben und Abneigungen und so weiter. Ich bin kein Fan davon, also werde ich gar nicht mehr darüber sagen.

Natürlich habe ich die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, daß ich mein Album bald finden werde, dann werde ich in einem Extrapost etwas davon zeigen (nicht die zusammengeklebten Seiten!). "Das Haus verliert nichts", wie es so schön heißt, es muß hier irgendwo sein!



Quellen:

1. 
Werner Wilhelm Schnabel: Das Album Amicorum. In: Album : Organisationsform narrativer Kohärenz, hrsg. von Anke Kramer und Annegret Pelz. Göttingen : Wallstein Verlag, 2013, Seiten 213 - 285
2. Antje Petty: "Dies schrieb Dir zur Erinnerung ..." From Album Amicorum to Autograph Book. On: Max-Kade-Institute for German-American Studies. University of Wisconsin-Madison (auf Englisch)
3. Stefanie Bock: Das Poesiealbum: Eine evangelische Erfindung. Auf: indeon, 16. August 2022
4. Peg Frizzell: My Cherished Poesie Album. Auf: FanningSparks (auf Englisch)

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