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Mittwoch, 11. Juni 2025

Enid Blytons und die "Nicht-Blytons"

Habt ihr jemals Enid Blyton gelesen?
Blyton war eine englische Autorin von Kinderbüchern, die seit den 30ern sehr beliebt sind und weltweit millionenfach verkauft wurden.
Eine Menge deutscher Kinder waren Fans der einen oder anderen Serie von ihr und sind es vielleicht sogar noch als Erwachsene.
Vor einiger Zeit wurde mir auf YouTube ein Video empfohlen, das "These Enid Blyton novels don't exist - but Germans are obsessed with them anyway" hieß (Diese Enid-Blyton-Romane existieren nicht - aber Deutsche sind trotzdem von ihnen besessen), der Kanal heißt "Spinster's Library" (für mich hat der Titel schon etwas von Clickbait, aber das Video war interessant).

Die Kommentarspalte explodierte total mit Kommentaren von einer Menge deutscher Frauen, aber auch Männern über ihre eigenen Erfahrungen mit "Hanni und Nanni", "Die fünf Freunde", "Dolly", im Original "St Clare's", "The Famous Five" und "Malory Towers", aber auch zu anderen Blyton-Serien und sogar anderen Autoren.
Dann gab es noch die, die die Originalserien gelesen hatten und überrascht waren zu hören ... ich greife mir selbst vor. Das Ganze ist etwas verwirrend.

Alle drei erwähnten Serien können uns etwas über Fortsetzungsbücher durch andere Autorinnen und Autoren beibringen, und ebenso über Domestication (Einbürgerung) und Foreignization (Verfremdung).
Ich hatte darüber nachgedacht, einen Post nur über Domestication und Foreignization zu schreiben, auch weil das ganz gut zu meinem Post über Synchronisation von vor ein paar Tagen passen würde, schließlich sind Übersetzungen auch ein Teil des Synchronisierens. Es gibt aber unterschiedliche Theorien und Meinungen dazu, und ich bin mir selber nicht mal sicher, ob ich immer dasselbe wählen würd, abhängig davon, was für Literatur es ist.
Also werde ich das nur kurz erwähnen, und wenn ihr an mehr interessiert seid, gibt es am Ende des Posts ein paar Quellen.

Domestication = einen Text so übersetzen, daß er für das Zielpublikum verständlich ist, indem man es an dessen Kultur anpaßt, was im Vergleich zum Original zu Informationsverlust führen kann/wird
Foreignization = den Text so übersetzen, daß er den Originaltext und die Kultur, aus der er stammt, genau abbildet, selbst wenn das ohne weitere Recherchen für das Zielpublikum schwer zu verstehen sein kann

Die Bücher, über die ich sprechen werde, fallen unter die Überschrift "Domestication", was für diese Zeit nicht wirklich überraschend ist (Blyton schrieb sie hauptsächlich in den 40ern und 50ern, in Deutschland wurden sie in den 50ern und 60ern veröffentlicht).
Genau wie beim Synchronisieren stellt sich die Frage, wie weit man mit einer Übersetzung gehen kann. Wie weit will man gehen? Und natürlich die ewige Frage - was bringt wahrscheinlich mehr Geld ... was dann gewöhnlich auch definiert, wer diese Entscheidungen trifft.
Übersetzer haben in der Kommentarspalte des Videos erwähnt, daß oft nicht sie über Änderungen entscheiden, das tun die Herausgeber/Verlage.
Natürlich ist das oft kontrovers, vor allem wenn Kinder das Zielpublikum sind. Wieviel
kann man von jungen Lesern erwarten und wieviel erwartet man tatsächlich?

Ich las "Hanni und Nanni" bei meiner Freundin und hatte selber nur eins der Bücher. Als ich sie las, war ich so zwischen 7 und 10 Jahre alt, und ich kam bis Band 15. Dann kaufte ich Jahre später aus sentimentalen Gründen den Sammelband mit den Bänden 1 bis 19, und da fand ich dann auch heraus, daß Enid Blyton tatsächlich nur sechs Bände der "St Clare's" -Reihe geschrieben hatte.

Illustration für "Hanni und Nanni"
von Nikolaus Moras, der auch andere Blyton-Bücher und andere
Serien für den deutschen Schneider-Verlag illustrierte.
Wie ihr sehen könnt, wurden auch die Illustrationen
an die Erscheinungszeit angepaßt, nicht nur der Text!
Ich mochte die Schuhe, weil sie mich so sehr an eine Art der
Barbie-Schuhe zu dieser Zeit erinnerten.

So wie auch anderen war mir als Kind nicht klar gewesen, daß die Bücher ursprünglich englisch waren - nun ja, jedenfalls die ersten sechs - und anfangs sprachen wir sogar den Namen der Verfasserin fröhlich so aus, als wäre er deutsch. Als Kind, vor allem in den 70ern, akzeptierte man eine Menge Dinge, ohne ständig darüber nachzudenken, auch wenn sich manche davon ein wenig seltsam anhörten.
Ich las viele verschiedene Bücher, zweifellos waren nicht alle davon meinem Alter angemessen, aber das bedeutete damals wahrscheinlich sowieso nicht dasselbe wie heute.

Vielleicht hätte ich also kein Problem damit gehabt, nur englische Namen zu lesen, von Lacrosse zu hören (das erst in den 90ern nach Deutschland kam, ich frage mich, ob ich das überhaupt in unserem Lexikon gefunden hätte) und von Schuluniformen, und vielleicht hätte ich das faszinierend gefunden, aber vielleicht wäre uns Kindern etwas, das wir nicht nachvollziehen konnten, auch langweilig geworden. Wer kann das schon sagen?
Ich erinnere mich, daß ich mich mehr als einmal darüber wunderte, wie andere Kinder einfach so allein wegkonnten, zum Beispiel in einem Pferdewagen 
😂
Ein Teil von mir sehnte sich danach, so etwas Verrücktes zu machen, aber in meinem Herzen wußte ich, daß ich dazu niemals den Mut gehabt hätte - oder die notwendigen Fähigkeiten!

Domestication war ein Punkt im Video, ein anderer war daß es viel mehr "Hanni and Nanni"-Bücher als Originale gibt.
Das ist allerdings nicht nur ein deutsches Ding.
"Continuation books" sind Fortsetzungen von Büchern oder Buchreihen, die nach dem Tod des Originalautors von jemand anderem geschrieben werden, autorisiert oder nicht.
Manchmal wurden sogar unvollendete Bücher von jemand anderem fertiggeschrieben, durch den Inhaber der Reche autorisiert.
Die englische "St Clare's"-Reihe umfaßt sechs Bücher, die von Enid Blyton geschrieben wurden, und drei "continuation books", die viel später von Pamela Cox geschrieben wurden.

In Deutschland ist die "Hanni und Nanni"-Series so beliebt, daß es im Moment 39 Bücher davon gibt, von denen 1 bis 4, 11 und 13 auf den originalen Blyton-Büchern basieren und 19 und 20 auf zweien der Cox-Bücher. Also haben sie sogar schon damit angefangen, ihre eigenen Geschichten zu erfinden, bevor sie überhaupt alle Originale verwendet hatten.
Wir haben auch Hörspiele (erinnert ihr euch an meinen Post über
 "Die drei ???"?) und sogar Filme!
Einige Leute haben außerdem die japanische Animeserie aus den 90ern erwähnt, die sie überhaupt erst zu den Büchern gebracht hat.

Interessanterweise haben ein paar der Kommentierenden, die beides kannten, gemeint, sie hätten die deutschen Bücher lieber gehabt, weil die englischen gemeiner gewesen wären. 
Ob das nur mit Domestication zu tun hatte oder auch, weil die deutschen Bücher ungefähr 20 Jahre später herauskamen und dieser Zeit angepaßt wurden, kann ich euch nicht sagen.
Auf jeden Fall wird Blyton schon lang nicht nur dafür kritisiert, daß sich manches in ihrer Arbeit immer wiederholt, sondern auch für sexistische, fremdenfeindliche oder rassistische Stereotypen, also wurden ihre Werke selbst im Englischen angepaßt.

Was ich sagen kann ist, daß Deutschland zu dieser Zeit nicht so viele Internate wie das Vereinigte Königreich hatte und das, soweit ich weiß, auch jetzt noch nicht hat. Die Bücher verkauften eine Art romantische Idee davon - Gemeinschaft, Streiche und Mitternachtsfeste - die, wie ich glaube, zum Lesen für uns lustig waren, aber nicht unbedingt etwas, daß wir selber gewollt hätten, zumindest nicht die Mädchen in meinen Kreisen.

Von der "Malory Towers"-Serie gibt es sechs Bücher von Blyton und sechs "continuation books", wiederum von Cox (in den 2000ern).
Ich hatte nie "Dolly"-Bücher - so hieß die Reihe von 18 Büchern in Deutschland - und las sie bei einer anderen Freundin, aber ich kann mich nicht wirklich an etwas erinnern. Ich schätze mal, ich konnte nur mit einer Internatsgeschichte umgehen.
Wieder veränderte der deutsche Verlag den Text und die Namen stark, auch um die Bücher an die 60er anzupassen - Grammophone wurden zum Beispiel zu Plattenspielern. Manchmal wurden ganze Kapitel ausgelassen.
Seit 2020 gibt es eine BBC-Serie, die sich nah an die Originalbücher anlehnt. Es gibt zumindest für einen Teil der Serie schon eine deutsche Synchronisation, die, glaubt es oder nicht, auf Domestication verzichtet. Sagt nicht, wir seien nicht lernfähig
 😉

Die letzte Serie, die ich erwähnen möchte, ist "The Famous Five", auf Deutsch "Die fünf Freunde".
Obwohl ich einen Nachhilfeschüler hatte, der die ganze Sammlung besaß und bereit war, sie mir auszuleihen, habe ich nie die ganze Reihe durchbekommen, aber in meiner eigenen Kinderbuchsammlung sind ein paar Ausgaben aus den 60ern und 70ern, die ich von Flohmärkten habe.
Blyton hatte nur wenige Bücher für diese Serie geplant, aber sie war dann kommerziell so erfolgreich, daß sie am Ende 21 Bände schrieb (und noch ein paar Reihen, die demselben Muster folgten, Kinder, die Verbrechen aufklären, während sie in den Ferien oder bei jemandem zu Besuch sind - verglichen mit ihren waren meine Ferien gewöhnlich recht langweilig
 😂).

Eileen Alice Soper illustrierte das komplette Original-Set
der "Fünf Freunde"-Bücher

Auch für diese Reihe gibt es "continuation books", der französische Übersetzer dafür schrieb 24 Stück, von denen dann 18 ins Englische und Deutsche übersetzt wurden (überwiegend dieselben)!
Die Deutschen haben außerdem noch zwei Bücher, die "Geisterbände" genannt werden.
Sie waren ohne Genehmigung des Rechteinhabers veröffentlicht worden und mußten vom Buchmarkt zurückgezogen werden. Man kann sie immer noch gebraucht kaufen, aber sie werden als Raritäten angesehen und sind teurer.
Es gibt auch eine ganze Menge deutscher "continuation books", die nicht ins Englische übersetzt wurden, diese Reihe endete 2014.

Wenn ihr denkt, das wäre es jetzt schon, liegt ihr falsch.
Es gibt eine englische Serie, in der die fünf Freunde erwachsen sind, 15 offensichtlich recht kurze Bücher, die mehr Satire sind, wie ihr an Titeln wie "Fünf werden glutenfrei" oder "Fünf entkommen der Brexit-Insel" merken könnt. Ein paar davon sind ins Deutsche übersetzt worden.
Dann gibt es natürlich noch die Fernsehserien, von denen ich selber noch die aus den 70ern kenne, und die Filme und die Hörspiele (ein paar englische, viele deutsche), das Musical und die Spielebücher, Comics und ...

Illustration von Eileen Alice Soper

Also ja, ein paar der Kommentare habe ich nicht ganz verstanden (nicht daß ich alle gelesen hätte). Überraschung, okay, ich war selber überrascht, als ich es zum ersten Mal hörte, aber die Empörung, nein. Das ist wahrscheinlich so, weil Leute im Web heutzutage schnell über alles empört sind.

Domestication war damals kein sooo großes Thema und nicht nur deutsche Verlagen machten oder machen sich dessen schuldig. Außerdem hatten sie die Rechte erworben, und während man durchaus die Qualität der Bücher (Original und "continuation", vor allem in Serien, die lang laufen), Hörspiele usw. 
diskutieren kann und natürlich Domesticataion im allgemeinen, heißt das nicht, daß die Nachfahren abgezockt wurden, auch wenn ziemlich sicher Geld die Motivation war.
Der Hauptpunkt ist, daß auf den "continuation books" immer noch Blytons Name steht, aber denkt daran, daß 
"Die drei ???" nie von Alfred Hitchcock waren und er als Verfasser draufstand, so wie andere Buchreihen von einem Syndikat geschrieben wurden, also ist nicht mal das so ungewöhnlich.
Jedenfalls bleibt die Kontroverse bestehen.

Was mich wirklich
 überraschte war, wieviele Leute von ihren eigenen Erinnerungen in Verbindung mit den Büchern erzählten.
Meine eigene Erinnerung ist, wie ich lesend im Zimmer meiner Freundin auf dem Boden lag, die Füße hochgelegt, und dann dachten wir über Abenteuer nach, die wir haben könnten.
Aus Mangel an Internaten, Schmugglern, Geheimgängen und Pferdewägen haben wir aber einfach nur das Übliche gemacht - Fahrrad fahren, Blumen pflücken, im Wald spielen - bis wir für die meisten der Bücher sowieso zu alt geworden waren.

Für diesen Post habe ich das erste St Clare's-Buch auf Englisch gelesen und da war immer noch dieser Anflug von Nostalgie, auch wenn ich bei manchen der Beschreibungen zusammenzuckte und mir klar ist, daß Blyton keine sehr nette Person und Mutter war. Tatsächlich könnte ihr Leben locker einen weiteren Post abgeben, den zu schreiben ich aber keine Lust habe. 
Ich schätze, es ist wohl mehr Nostalgie für die Zeit selber und die Erinnerungen, die durch die Bücher heraufbeschworen werden, und nicht so sehr die Bücher selber (nachdem ich das geschrieben hatte, fand ich einen Artikel genau darüber -Kindheitsnostalgie in Verbindung mit Blyton).

Es tut mir leid, wenn ihr jetzt völlig verwirrt seid, aber ich habe euch gewarnt.
Hattet ihr gedacht, der Kinderbuchmarkt sei in den alten Zeiten simpler gewesen? Ich nehme an, es war immer ein Dschungel da draußen, und dabei habe ich sogar über nur drei der vielen Reihen gesprochen, die Blyton wie am Fließband ausgestoßen hat (sie schrieb so viel, daß die Leute dachten, es sei unmöglich, daß sie das alles allein gemacht hat).

Übrigens, ratet mal, welche Empfehlung ich bekam, als ich zu YouTube auf meinem Fernseher ging, nachdem ich diesen Post fertig hatte - den Fernsehfilm "Enid" von 2009, der ungefähr zur gleichen Zeit hochgeladen wurde, als ich mit dem Entwurf anfing. So gruselig!


Ausgewählte Quellen:

Zu Blyton:

1. These Enid Blyton novels don't exist - but Germans are obsessed with them anyway. Auf dem Kanal von Spinster's Library auf YouTube (auf Englisch)
2. Fiona ?: Blyton by others: A guide to prequels, sequels and continuations. Auf: World of Blyton, 22. Januar 2020 (auf Englisch)
3. Continuation books. Auf: The Enid Blyton Society (auf Englisch)
4. Pranay Somayajula: My Nostalgia for Enid Blyton is Complicated: Reckoning with the racism of my favorite childhood author. Auf: Electric Lit. 2. November 2022 (auf Englisch)
5. Rowan Morrell: Five Have Adventures Abroad. Website über Enid Blyton "Continuation Novels" (auf Englisch)
6. The Soper Collection - Eileen Alice Soper (auf Englisch)
7. Jasmin Klein: Hanni und Nanni besuchen eine Ausstellung. Auf: Meine Südstadt. 13. November 2015

Zu Domestication (Einbürgerung) und Foreignization (Verfremdung):
1. Ao Sun: Domestizierung und Verfremdung in der Übersetzung: Eine theoretische Untersuchung. Auf: J&Y Translation
2. Wenfen Yang: Brief Study on Domestication and Foreignization in Translation. In: Journal of Language Teaching and Research. 1(2010), 1, pp. 77 - 80 (Open Access, auf Englisch)
3. Jekatherina Lebedewa: Mit anderen Worten - Die vollkommene Übersetzung bleibt Utopie. In: Ruperto Carola 3(2007) 
4. Anna von Rath: Schreiben und Übersetzen sind keine neutralen Tätigkeiten: Ein Interview mit Kavitha Bhanot. On: poco.lit., 15. März, 2023

Es tut mir leid, daß meine Quellen meist nur englischsprachig sind, aber mein englischer Blog wird einfach mehr frequentiert und der Zeitaufwand für die Recherche ist oft so groß, daß ich nicht auch noch die Zeit finde, adäquate deutsche Quellen zu suchen. Sollte euch ein Artikel interessieren, gibt es Übersetzungsprogramme, die zumindest einen Eindruck vermitteln können.

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